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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Zahlen, und du bist auch eine Zahl, so wie ich natürlich auch. Nehmen wir zum Beispiel die Zylinderform! Was für eine Schönheit und Genialität! Das Volumen, die Oberfläche, der Mantel, die Zahl Pi – du kannst am Beispiel der Zylinderform die Dimensionen unserer Welt erforschen, so wie ich es eben hier an eurem kleinen und banalen Kinderschreibtisch tue, ohne Dolina Ró ż zu verlassen, während alle anderen Raketen, Flugzeuge und Radaranlagen bauen müssen.« Das Algebrabuch des Vaters durfte niemand benutzen, es lag in der Schublade der Küchenvitrine und wurde von ihm persönlich auf der Titelseite unterzeichnet und mit einem Datum versehen. »Bartek, du wurdest im Übrigen von einem Zylinder erschaffen, genauso wie ich«, grinste der Vater, unwissend, dass sein Sohn mit den Geheimnissen der Zeugung bestens vertraut war. »Zahlen! Zahlen!«, lachte der Franzose, der die Theorien seines Schwiegersohns für einen Humbug hielt. »Zahlen, mein Sohn, sind das Werk der Demiurgen – die kosmische Schöpfung in ihrer Ganzheit beschränkt sich nicht auf so etwas Unvollkommenes wie die Zahlen, die von den Demiurgen erfunden wurden, weil sie mit ihrer Hilfe die kosmische Schöpfung in ihrer Ganzheit nachzubilden versucht haben: Und diese primitive unechte Nachbildung begeistert solche Dummköpfe wie deinen Vater! Krzysiek wird sich zu Tode rechnen und dennoch nichts erkennen! Ich habe Platon gelesen, ich weiß, wovon ich rede!« Von diesen unvollkommenen und vollkommenen Zahlen des Vaters und den Theorien des Opas Franzose wurde es dem Schusterkind nicht selten schwindelig, es musste sich dann ins Bett legen, und nachts versuchte es, sich die Unendlichkeit vorzustellen, doch es bekam bei diesen Anstrengungen nur Kopf- und Augenschmerzen, weil es die Unendlichkeit weder denken noch sehen konnte. Bartek sagte sich: Ich zähle bis zehn, und bei zehn werde ich die Unendlichkeit sehen! Aber schon bei sechs war ihm klar, dass er die Unendlichkeit niemals zu sehen bekäme.
    Als Bartek in die Karol-Marks-Straße abbog, geriet er in Panik. Mein Gott! Und wenn ich schwanger bin? Ich kann doch von Mariola schwanger geworden sein, dachte er, wer weiß, wie sich unsere Liebessäfte miteinander vermischt haben, wohin sie geflossen sind – in meinen oder ihren Bauch, in mein oder ihr Blut! Er hatte in einer Zeitung gelesen, dass ein Mann theoretisch und praktisch ein Baby in seinem Bauch tragen und ernähren könnte, ja, die Wissenschaftler arbeiteten schon an solch perfiden Experimenten, und wenn Bartek aus Dolina Ró ż der erste schwangere junge Mann der Welt werden sollte, gäbe es sofort eine Invasion von Wissenschaftlern und Journalisten aus aller Herren Länder, denn alle würden dabei sein wollen – bei dieser einmaligen Geburt eines zweiten Schusterkindes. Nein, dachte Bartek, dann soll lieber Mariola schwanger werden, eine traurige Berühmtheit möchte ich nicht sein, und die Hure Marzena kann uns vielleicht helfen, Oma Olcia wird wieder ein bisschen weinen und den Hühnern und Gänsen die Federn ausrupfen und dabei immerzu weinen, doch ich will nicht schwanger sein!
    In der riesigen Eingangshalle des Johanniter-Krankenhauses wimmelte es von männlichen Patienten in gestreiften Pyjamas, darüber trugen sie einen Bademantel. Sie langweilten sich sichtlich, rauchten draußen Zigaretten, schlenderten durch die Krankenhausflure, palaverten stundenlang miteinander. Ihre Köpfe waren bandagiert, oder ein Bein steckte in Gips, ihre Gesichtshaut war entweder kreidebleich oder hepatitisgelb. Waren sie Soldaten?, fragte sich Bartek. Und von welcher Front hatte man sie hierher zur Behandlung und Gesundwerdung geschickt? Von welcher verlorenen Schlacht? Bartek sah in ihre Soldatengesichter und sah in den Augen der Männer, dass sie an allen Fronten Europas gekämpft hatten. Unter Napoleon und Hitler, unter Stalin und Churchill. Nein, diese Männer waren keine gewöhnlichen Patienten.
    An der Rezeption fragte das Schusterkind nach seinem Opa Monte Cassino und bekam keine zufriedenstellende Antwort. »Monte Cassino? Vielleicht ist das die Station Nr. 5« , sagte die Rezeptionsdame. »Vielleicht aber auch die 3 . Wer kann das schon wissen? Es gibt zu viele Stationen und Patienten.« Bartek machte sich dennoch auf den Weg zur Station, auf der Monte Cassino untergebracht wurde. Aber wo war diese Station? In welchem Licht? In welchem Stockwerk?
    Er traf Mariola, die Spätdienst hatte, ja, er traf sie wirklich, und sie sprach mit ihm wie

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