Der Lippenstift meiner Mutter
schon viel besser. Er kehrte wenigstens immer wieder auf die Erde zurück wie der Schnee, und er trug ein Geheimnis, das vielleicht kein großes war, das ihm aber niemand entreißen konnte.
Die Schuster begannen zu arbeiten.
Herr Lupicki war für die Damen- und Mädchenschuhe zuständig, weil diese Reparaturen seiner Meinung nach besonderes Geschick erforderten. Außerdem empfand er es als ein Privileg des Chefs, dem zarten Geschlecht, wie er voller Stolz sagte, dienen zu können. »Ich weiß, mein hübsches Füßchen, dass ich ein Grobian bin«, sprach er mit jedem Schuh einer jungen Frau, »aber ich werde versuchen, dir nicht wehzutun! Und ich weiß auch, dass du meine dreckigen Fingernägel nicht magst…« Die Schuhe alter und wohlbeleibter Weiber wiederum beschimpfte er: »Verfressene Gänse! Ich bin doch kein Arzt!«, meinte er dann selbstzufrieden. »Und guckt euch ihre Zehenballen an! Diese missgebildeten Knochen machen jedes Schuhwerk kaputt!« Opa Monte Cassino und Herr Kronek mussten sich mit den schäbigen Arbeiten begnügen: Monte Cassino bediente von morgens bis abends die Schleif- und Nähmaschinen, atmete den Staub ein und beklagte sich über nächtliche Asthmaanfälle und Kopfschmerzen. Der wortkarge Micha ł Kronek klebte, nagelte und nähte die Halbschuhe und Stiefel der Männer von Dolina Ró ż , und sein Kollege musste anschließend die Absätze und Sohlen schleifen, wobei Kronek besonderen Wert darauf legte, dass man ihn als Herrn Lupickis Stellvertreter und rechte Hand ansah. Den ehemaligen Wehrmachtssoldaten, den er für einen Protestanten hielt, behandelte er wie einen Verbrecher − als strenger Katholik hatte Kronek für andere Konfessionen keinerlei Verständnis. Barteks Opa Monte Cassino war für ihn ein Sklave und Gefangener, der lediglich Befehle zu empfangen und auszuführen hatte. Aus diesem Grunde kam es zwischen den beiden Angestellten von Herrn Lupicki fast täglich zum Streit. »Rudolf Höß und Luther – das sind deine Götter«, beschimpfte Kronek seinen Arbeitskollegen. Im tiefsten Inneren war er traurig darüber, dass er die Luft eines Lagers oder des Warschauer Aufstandes nie geatmet hatte. Sein linker Arm trug keine Narben von einem Nahkampf und keine tätowierte Nummer, und es schmerzte ihn, dass er in der Langeweile der Provinz von Masowien kein Held hatte werden können. Er brüstete sich lediglich damit, dass sein Vater als Partisan zu Ruhm gekommen war.
Der Franzose und sein Enkel standen am Tresen und schauten grinsend den Männern bei ihrer Arbeit zu, als würden sie sich im überfüllten Saal des Kulturhauses von Dolina Ró ż ein lustiges Gastspiel ansehen. Und die Schuster hämmerten, rauchten Zigaretten, spuckten auf den verstaubten Dielenboden und stritten miteinander, aber man verstand jedes Wort, da sie laut und vorwurfsvoll miteinander sprachen. Norbert schlief dabei im Sitzen in einer Ecke ein – mit der ledernen Umhängetasche von Onkel Fähnrich auf den Beinen, in der er seine wichtigsten Schätze trug: die Ministrantenglocken, die lederne Geißel, verschiedene Talismane, die Norbert vor dem Bösen, das ihm tagtäglich auf den Straßen begegnete, beschützen sollten. Einige Bewohner des Städtchens hätten ihn am liebsten eingesperrt, dieses missratene Geschöpf, das sie mit einem Tier verglichen. Nichtsdestotrotz: Norberts Lieblingstalismane waren zum Beispiel die Stricknadeln seiner Stiefmutter, dann die Pfrieme und Stichhaken aus der Schusterwerkstatt und die verbogenen Suppen- und Teelöffel, die ihm Barteks Vater geschenkt hatte. Seitdem sich Fernsehsendungen über Magier, UFOS , Telepathie und den legendären Kontinent Atlantis großer Popularität erfreuten, war Barteks Vater fest davon überzeugt, über außergewöhnliche Fähigkeiten zu verfügen und allein mit der Kraft seiner Gedanken Löffel verbiegen oder Uhrzeiger bewegen zu können. Sein unglaubliches Talent stellte er unter Beweis, wenn er etwas getrunken hatte. Dann saß er am Küchentisch, sein Gesicht bitterernst, als würde er in der ersten Reihe des Trauerzuges hinter dem Sarg eines geliebten Menschen hergehen, und starrte mit einem vernichtenden Blick den Löffel und seinen rechten Zeigefinger an, der ihm am nächsten Morgen immer sehr wehtat, weil er jedes Mal das dünne Stück Metall regelrecht mit Gewalt um den armen Finger zu biegen versuchte, aber nicht mit der Kraft seiner Gedanken, sondern der seiner Muskeln.
»Franzose! Meine Frau wird sich freuen, dass du zu uns
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