Der Lippenstift meiner Mutter
sehen, die beim Schleifen der Absätze und Sohlen entstanden. In den Regalen und Schränken lagerten Schuhe, Werkzeuge und allerhand Gerümpel, das man normalerweise nur im Keller eines seit vielen Generationen von einer einzigen Familie bewohnten Hauses vermuten würde: alte Wanduhren, Fleischwölfe, Fahrradketten und -schläuche, Nachttischlampen, Telefonapparate und sogar Spielzeugpuppen lagerten in diesen überfüllten Regalen, die Herr Lupicki gebaut hatte. Er baute alle Möbel selbst. Für die Sitzflächen der Stühle und Hocker verwendete er altes Leder, das er für die Reparatur der Kundenschuhe nicht mehr gebrauchen konnte. Sämtliche Hocker, auf denen die Schuster den ganzen Tag saßen und hämmerten, waren mit breiten Lederstreifen bespannt. Und ihr Hämmern, das Bartek Schustermusik nannte, hörte man an manchen Tagen, besonders im Sommer, schon auf der Straße, wenn man sich dem Kiosk und dem Schuhladen näherte. Und je lauter das Hämmern war, desto sicherer war es, dass die Schuster schlecht gelaunt waren, allen voran Herr Lupicki. Unter seinen Fingernägeln klebte seit zig Jahren der Dreck seiner Werkstatt, er würde sie nie wieder dauerhaft sauber bekommen, was ihn schmerzte, weil er dreckige Hände hasste. Unter seinen Fingernägeln − und das war Bartek nicht bewusst − klebte die Wut auf seine Landsleute, die seine Arbeit als selbstverständlich hinnahmen und ihr keine große Bedeutung beimaßen. Und Herr Lupicki lachte nie. Er war ein stolzer und ernster Mann, der auch die Witze der drei blonden Schwager hasste und der so sehr in seine Arbeit vernarrt war, dass man den Eindruck hatte, er würde jeden Tag eine schwierige chirurgische Operation durchführen, von deren Erfolg das Überleben eines Patienten abhängen würde.
Als die Toilettentür aufging, hatte Bartek das Gefühl, sein Herz würde aus seiner Brust herausspringen wie eine Billardkugel. Er kannte dieses Gefühl zu gut, es kehrte nur im Winter zurück, im richtigen Winter, wenn seit Monaten Schnee auf den Straßen von Dolina Ró ż lag. Eigentlich gab es ja in ihrem Städtchen keine Sommer und Frühlinge – die gab es an den großen masurischen Seen, wo sich die Touristen herumtrieben. Die Städte Masurens schliefen im grauen Bett, im grauen Tal des Sozialismus. Gelegentlich träumten sie von einer besseren Zukunft, und dann erinnerte man sich daran, dass viele Häuser erheblich älter waren als die Großeltern aus Galizien, Litauen und der Ukraine, die man zur Umsiedlung gezwungen hatte und die nun in den toten Körpern der Weltgeschichte hausen mussten. Wo waren aber die ursprünglichen Besitzer der Häuser? Was war mit ihnen geschehen? Wenn Bartek ins Grübeln kam, dachte er, Dolina Ró ż befände sich auf einem fremden Planeten, auf dem er bloß zu Besuch wäre. Und auf dieser neuen Erde machte er die unglaubliche Entdeckung, dass Dolina Ró ż einmal Rosenthal geheißen hatte.
Das erste Mal hatte sein Herz so heftig geschlagen, als er glaubte, einen unsichtbaren Liebesbrief von Jesus Christus erhalten zu haben, und er glaubte sogar daran, dass der Heiland sich in seinem Körper für immer eingenistet hätte und ihn nie mehr verlassen würde. Daraufhin beschloss er, Ministrant zu werden, doch nachdem er festgestellt hatte, dass die Pfarrer der St.-Johann-Kirche die Bewohner von Dolina Ró ż als minderwertige, willensschwache Geschöpfe ansahen, die der Liebe Jesu und seiner unbefleckten Mutter nicht würdig waren, wandte er sich davon wieder ab. Das zweite Mal wollte sein Herz vor Liebesgier explodieren, als er im Kino Zryw Meryl Streep kennen lernte.
Und nun zeigte ihm sein Herz, dass er tatsächlich zurückgekommen war: der Opa Franzose. Er steckte in einer dunkelblauen, hier und da zerschlissenen Uniform der polnischen Eisenbahn und war mächtig gealtert. Seine braunen Augen hatten ihre Kraft, die Kraft eines Chansoniers und Gelehrten, verloren.
Bartek warf sich ihm an die Brust, und Opa Franzose umarmte ihn und küsste ihn auf die Stirn: »Du musst mein Enkel sein!«, sagte er. »Verdammt! Du bist ein richtiger Mann geworden!«
Herr Lupicki holte aus der Totenkammer eine Flasche Schnaps, den sein Angestellter gebrannt hatte. Dann bat er seine Kunden höflich, nach Hause zu gehen, er würde heute wegen der beißenden Kälte draußen und zu Ehren des unerwarteten Gastes die Werkstatt etwas früher schließen. Der Mörder Baruch und die Hure Marzena durften noch ein halbes Stündchen bleiben. In ihren Wohnungen war es
Weitere Kostenlose Bücher