Der Lippenstift meiner Mutter
gewesen sein. Seine Frau Hilde geriet ins Schwärmen, wenn sie auf die guten alten Zeiten zu sprechen kam. Während des Krieges war Monte Cassino mit seiner Truppe in Rosenthal, einer traditionellen Garnisonsstadt, stationiert. Und Hilde erzählte gern, wie sie in Rosenthal einen großen und schlanken Kerl kennen gelernt hätte, dem alle Mädchen damals zu Füßen gelegen hätten. Nach dem Krieg war er dann im Rollstuhl zu seiner ostpreußischen Geliebten zurückgekehrt: Das Rote Kreuz hatte ihm bei der Suche nach ihr geholfen. Und da ihm, einem Vaterlandsverräter, die polnischen Kommunisten keine Soldaten- und Behindertenrente zahlen wollten, erbarmte sich Herr Lupicki seiner und stellte ihn nach Stalins Tod als Aushilfskraft ein. Barteks Vater Krzysiek erinnerte sich immer noch mit Wonne, vor allen Dingen im Suff, an den häufigen Streit zwischen seinen Eltern: »Du wirst doch nicht bis an dein Lebensende bei diesem ukrainischen Chassid, einem Juden, für die Polen Schuhe zusammenkleben und -nageln!« − »Schweig! Du dummes Weib!« Immerhin konnte Monte Cassino seiner widerspenstigen Frau Polnisch beibringen, sodass sie in Dolina Ró ż nicht verhungern musste: Sie fand auch eine Arbeit und gebar ihm, dem verkrüppelten Soldaten, Krzysiek.
Jedenfalls hatten die Schuster trotz ihrer fast fünfundsechzig Jahre auf dem Buckel kräftige Arme und Schultern, und wenn sie auf ihren Hockern saßen – und Monte Cassino in seinem Rollstuhl –, hämmerten und die kaputten Schuhe und ihre Träger verfluchten (auf dem Schoß den Dreifuß mit dem aufgestülpten Patienten), sahen sie aus wie Skulpturen, die jemand in dieser Werkstatt vor vielen Jahren aufgestellt und seitdem nicht mehr bewegt hatte. Die Schuster vergaßen überdies bei ihrer Arbeit die Zeit und wirkten abwesend und unnahbar, sodass sie von den Kunden regelrecht geweckt werden mussten. Und nahm zum Beispiel Herr Lupicki einen Schuh zur Reparatur entgegen, stand er lange am Tresen, betrachtete den Patienten von allen Seiten, drehte ihn in seinen Händen, räusperte sich und sagte seinen Standardsatz, nämlich dass dies ein schwieriger Fall sei und er nicht einschätzen könne, wann er mit der Arbeit fertig werden würde.
Bartek hielt die Schuster für glücklicher als seine Eltern und viele andere Bewohner des Städtchens. Dabei waren sie eigentlich Erzfeinde untereinander. Ein ehemaliger Wehrmachtssoldat, ein Pole namens Micha ł Kronek und ein verkappter Chassid und ukrainischer Jude, der sich für einen polnischen Patrioten ausgab, waren dazu verurteilt, miteinander zu leben: Tag für Tag und von morgens bis abends in diesem engen, verstaubten und zugerümpelten Raum. Fünfunddreißig Quadratmeter maß ihr privates Europa. Immerhin durften sie sagen, was sie dachten − niemand würde sie ins Gefängnis stecken. Ihre Freiheit imponierte Bartek, und dennoch wollte er kein Schuster werden. Irgendwann aus Dolina Ró ż zu fliehen, wie es sein Opa Franzose getan hatte, gefiel ihm am besten von allen Optionen und Ideen, die ihm durch den Kopf schwirrten. Vielleicht war deshalb auch für ihn jeder Besuch bei Marcin die glücklichere Rettung vor dem ewigen Winterschlaf ihres Städtchens als die tägliche Flucht in die Werkstatt von Herrn Lupicki. Der Aristokrat des Denkens und Handelns hatte einen bombenfesten Entschluss gefasst, und Bartek wusste, dass sein Kumpel und Lehrmeister in Philosophie und Musik diesen Entschluss auch in naher Zukunft realisieren würde. Bloß Amerika interessierte Bartek nicht. In Amerika würde er sich zwar endlich seine Lieblingsschallplatten kaufen und ein paar unglaubliche Rock- und Jazzkonzerte besuchen können, jedoch zu einem sehr hohen Preis, den er nicht bereit war zu zahlen – weder in Amerika noch hier. Alle polnischen Männer, auch die gescheiterten Fußballer, Schachspieler, Lehrer und Ingenieure, die mit einem Haufen Dollar nach Dolina Ró ż zurückkehrten, um eine Firma zu gründen, ein Geschäft zu eröffnen oder ein Haus zu bauen, hatten bei den miesen und erniedrigenden Jobs in den USA den Glauben an die Einmaligkeit ihres eigenen Daseins und Tuns eingebüßt, und dies zum zweiten Mal, weil sie in ihrer Heimat ursprünglich als Nieten oder Faulenzer gegolten hatten. Die Geldgier, getarnt als edle Sehnsucht nach einem Leben in einem normalen Staat, hatte ihre Seelen ausgehöhlt und sie selbst zu Zombies werden lassen. Da gefiel Bartek Opa Franzose, dieser Zugvogel, der wie ein Nachtfalter oder Schmetterling lebte,
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