Der Lippenstift meiner Mutter
sagte der Franzose nach einer Weile, »dass ich meine Schuhe im Schnee verliere. Deshalb bin ich so langsam. Und ich besitze nur dieses eine Paar.«
Der alte Mann kam Bartek nicht mehr fremd vor, er hatte sich schnell an seinen schweren Atem gewöhnt und auch an den Geruch, der ihn augenblicklich ins Schlafzimmer der Oma Olcia katapultierte, in dem es immer noch nach alten Kleidern und Schuhen roch. In ihrem Kleiderschrank wohnte dieser Duft, der gar nicht so unangenehm war. Er sagte ihm, dass manche Kleidungsstücke viel älter waren als er selbst. Es gab also, dachte er, Sakkos und Röcke, die mehr wussten als er, weil sie schon etliche Schulen besucht und schwere Zeiten durchgemacht hatten.
»Bevor wir deinen Eltern vor die Augen treten, muss ich dir etwas sagen«, meinte der Franzose.
Sie gingen am Piracka vorbei und wählten den kürzesten Weg, wo der Wind nicht mehr so wütend blies. Das Plattenbauquartier an der Luna lag auf einem Hügel, es war der höchste Punkt des Städtchens – nur das zerstörte Schloss der Kreuzritter konnte sich mit dieser Höhe messen, da es selbst auf einem Hügel thronte, von dem aus man ins Lunatal blicken konnte. Von dem mittelalterlichen Schloss war zwar so gut wie nichts mehr zu sehen, außer ein paar Mauern, aber auswärtigen Gästen zeigte man gerne die Ruinen, um die einstige strategische Bedeutung von Dolina Ró ż zu verdeutlichen. Die Rosenthaler Synagoge hätte am Flussufer gestanden, meinte Oma Hilde, von diesem Gebäude wären jedoch nicht einmal Fundamente geblieben. »Unsere Juden sind alle nach Amerika abgehauen!«, entschuldigte sich die Ostpreußin Hilde in ihrem für Muttersprachler oft stümperhaft klingenden Polnisch, wenn sie nach der Synagoge gefragt wurde. »Wir haben ihnen nichts Böses getan!« Das berühmte Plakat mit Frank Zappa, der nackt auf dem Klosett sitzt, brachte sie aber total durcheinander. Bartek hatte das Plakat über seinem Bett angebracht. Sie sagte ihm einmal: »Mein Kind! Reiß dieses schreckliche Foto von der Wand herunter! Das ist ein nackter Jude!« Und Hilde sah es auch nicht gern, wenn Bartek mit seinen Freunden die alten Schlossruinen aufsuchte, um dort auf Mauerresten und Säulenstümpfen Bier zu trinken, Zigaretten zu rauchen und die Zivilisation von Dolina Ró ż und den Sozialismus in hasserfüllten Tiraden zu verdammen. Es sei ein gespenstischer Ort, meinte Hilde. »Die Leichen der Kinder und Soldaten sehe ich immer noch in den zerbombten Gemäuern liegen, wenn ich in diese Gegend komme«, klagte sie.
Plötzlich beruhigte sich der Sturm. Es schneite nicht mehr so stark, am Himmel tauchten die ersten Sterne auf, und die orangefarbene Leuchtkraft des Schnees war zurückgekehrt.
»Was ich dir erklären will, ist Folgendes, mein Schusterjunge!«, fuhr Opa Franzose fort. »Eigentlich wollte ich nie wieder nach Dolina Ró ż kommen, doch eines Nachts bin ich schweißgebadet aufgewacht, weil mich ein Alptraum gequält hat und ich sofort wusste, dass ich dich, bevor ich ins Gras beiße, noch ein letztes Mal sehen muss. Ich habe mich gefragt, was inzwischen aus dir geworden sein mochte, und ich sehe, dass ich mich in meinen Erwartungen und Phantasien nicht getäuscht habe − du bist ein prächtiger Junge, der wie ich kein warmes Plätzchen finden kann, weder bei den Schustern noch bei seinen Lieben zu Hause. Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum ich wieder zurückgekommen bin, in unser Lunatal! Und du bist schon in einem Alter, in dem du die Dinge, die mir keine Ruhe lassen, verstehen wirst.«
Bartek war perplex über dieses rührselige Gerede. Er dachte sich, hör mal, du Eisenbahner, Geigenspieler und Vagabund, du kennst weder Joy Division noch das wahre Ziel des Kommunismus, der dir den Kopf verdreht hat wie eine junge Geliebte. Ich gelte nämlich in meiner Schule als schlimmer Parasit, und du weißt nicht, dass ich mich von euch mit allen Wassern gewaschenen Ideologen, die ihr in den Schulen, Fabriken und Ämtern sitzt, nicht mehr unterkriegen lassen will. Hör mal, dachte Bartek, ich verzichte gerne auf deine Ratschläge oder Begründungen, warum du und ich uns angeblich so ähnlich sind. Und überhaupt, sagte er sich, was weißt du schon davon, was Liebe ist, der du vor ihr stets geflohen bist? Immerhin bin ich mit Meryl Streep zusammen. Ich wundere mich im Übrigen nicht, dass du dieser katholischen einfältigen Kuh, der du drei schwarzhaarige Töchter gemacht hast, zum Schluss eine harte Lektion erteilen musstest,
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