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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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bitterkalt, da sie am Ende des Monats für gewöhnlich pleite waren und für Steinkohle kein Geld mehr hatten. Nachdem jeder ein Gläschen getrunken hatte, fügte Herr Lupicki noch hinzu, dass er sich über die Rückkehr des Franzosen sehr freue und dass bitte jeder daran denken möge, wie schwer das Leben eines Reisenden und Heimatlosen sei.
    »Red keinen Quatsch!«, sagte Opa Monte Cassino. »Der Hund ist stets abgehauen, wenn er von uns und seiner Familie die Schnauze voll hatte. Er ging weg und kam zurück, wie es ihm gefiel – nicht wahr, Franzose?«
    Opa Franzose nickte und schwieg – einen Mann, dem nach einer schweren Kriegsverletzung die Beine amputiert worden waren, der im Rollstuhl saß und das Liebesglück nie erlebt hatte, würde er niemals angreifen und zum Duell herausfordern.
    Herr Lupicki sagte: »Ach! Was soll das Gerede?! Wir haben auch die Schuhe des Franzosen gerne repariert und mit Eisen beschlagen, obwohl er sie eigentlich nicht gebraucht hat! Wir unterscheiden nicht zwischen guten und bösen Menschen – wir müssen alle Schuhe in Dolina Ró ż gerecht behandeln. Seht! Selbst der Mörder Baruch und die Hure Marzena kommen zu mir …«
    Bartek konnte es kaum erwarten, dass ihm Opa Franzose wenigstens in ein paar Sätzen erzählte, wo er in den letzten fünf Jahren gewesen war und was er erlebt hatte. Deshalb unterbrach er das Geständnis des Schusters. Fiel man ihm unhöflich ins Wort, was niemand zu tun wagte, musste man mit dem Schlimmsten rechnen. Dann bestrafte Herr Lupicki den unhöflichen Übeltäter mit Hausverbot und warf ihm obendrein einen alten kaputten Schuh an den Kopf. Aber Bartek − das Schusterkind − durfte sich mehr erlauben als jeder andere, der in der Schusterwerkstatt tagtäglich verkehrte.
    »Du fragst, wo ich gewesen bin und was ich getan habe?«, begann der Franzose, nachdem er sich die erwartungsvoll strahlenden Augen seines Enkels kurz angesehen hatte. »Bartek! Ich bin Eisenbahner geworden! Das ist eine unvorstellbar schwere Arbeit, da du die meiste Zeit draußen bist, bei jedem Wetter! Der Winter ist auch unsere grausigste Jahreszeit – ich weiß gar nicht mehr, wie die Sonne aussieht! Man sagt, sie sei gelb und heiß wie eine Feuerflamme, doch ich kann es nicht bestätigen. Und ich sage euch eines: Ich hasse den Schnee! Ich wäre gerne für immer bei euch geblieben, doch nicht unter den Bedingungen, dass es unaufhörlich schneien muss!«
    Er stellte seine Aktentasche auf den Tresen und holte ein paar Zwiebeln, Möhren, Rote Beete, Äpfel und Sellerieknollen heraus: »Mehr habe ich euch nicht mitgebracht! Es sind harte Zeiten für die Eisenbahner angebrochen!«
    Monte Cassino sagte: »Franzose! Wir wollen von dir keine Geschenke!«
    »Hört nicht auf ihn, diesen verbitterten Soldaten einer geschlagenen Armee!«, sagte Herr Lupicki und fragte im nächsten Moment: »Franzose, wo wirst du heute Nacht schlafen? In der Totenkammer? Du kannst dir dort etwas zu essen kochen und dich auf dem Sofa ausbreiten, wie du willst!«
    »Nein, lieber Freund – steck mich bloß nicht in dieses Loch! Ich habe dort schon mehrmals übernachtet! Und die toten Schuhe lassen einen nicht zur Ruhe kommen! Ich konnte in diesem Raum kein einziges Mal in den Schlaf finden und habe mich wie ein Nachtwächter und Totengräber gefühlt! Und dann noch dieser fürchterliche Geruch, als hielte man sich im Leichenhaus unseres Krankenhauses auf! Dabei warten sie nur darauf, die vergessenen Schuhe, dass man sie wieder trägt, denn wer will schon sterben?! Nein, ich werde zu meinen Töchtern gehen! Sie werden mich schon nicht vor die Tür setzen. Denn bei Olcia kriege ich allerhöchstens nur einen Teller warmer Suppe! Und jetzt spielt mir endlich wieder eure Schustermusik, die ich so vermisst habe! Los! Fangt mal an zu hämmern und zu schleifen!«
    So etwas musste man Herrn Lupicki nicht zweimal sagen. Es gab sonst niemanden, der − wie Bartek – mit Vergnügen den Schustern beim Reparieren der Schuhe zuschaute und für den das Hämmern kein lästiger Lärm war, sondern ein Ohrenschmaus.
    Herr Kronek und Herr Lupicki waren wie der Opa Franzose und wie viele ältere Männer von Dolina Ró ż nicht größer als eins achtundsechzig. Monte Cassino aber, der als Sohn einer polnischen Mutter und eines österreichischen Vaters seine Kindheit in Galizien verbracht hatte und zum Dienst in der Wehrmacht gezwungen worden war, weil er Deutsch konnte, musste einmal ein stattlicher und gut aussehender Mann

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