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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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denn sie hat dich nicht verstanden. Olcia, die keine Bücher liest, nicht einmal die Bibel, hat dir aber verziehen, weil der Pfarrer jeden Sonntag von der Barmherzigkeit Jesu Christi predigt. Der Pfarrer hat sie vor dem Wahnsinn gerettet. Was sagst du nun dazu? Ja? Kannst du es bitte wiederholen? Was ist los? Na, hör mal, ich lebe – und du bist ein Toter: Ich bin hier allein geblieben, während du dich draußen in der Welt vergnügt hast!
    Bartek staunte über seinen inneren Wutausbruch, gleichzeitig staunte er noch mehr darüber, dass er keinen Mut aufbrachte, dem Franzosen seine Bedenken geradeheraus und scharf ins Gesicht zu schießen wie eine Maschinengewehrsalve.
    »Du tust mir weh!«, meinte Bartek, nachdem er sich doch aufgerafft hatte, sein Missbehagen in wenigen Worten zu schildern.
    »Ich weiß. Aber wenn du denkst, ich sei zu dir gekommen, um dich zu retten, irrst du dich gewaltig!«
    »Mich interessiert, wie es da draußen aussieht«, sagte Bartek. »Wo liegt der Ort, an dem du lebst? Wo ist das? Man erzählt sich, du hättest Kinder mit einer anderen Frau.«
    Sie näherten sich dem Plattenbauquartier. Der Halbmond begleitete sie auf Schritt und Tritt, sodass sie sein hinter den spärlichen Wolken wanderndes und tänzelndes Licht nicht zu suchen brauchten. An solchen verschneiten Abenden hatte Bartek den Eindruck, dass es in seinem Städtchen keine Schatten gäbe: Die Häuser schwammen in einem weißen Fluss − ohne Konturen, ohne Eingänge und Fenster. Die eingemummten Passanten bewegten sich mühsam in diesem reißenden Strom des Winters, und die nackten Laubbäume im Stadtpark wirkten auf den Betrachter wie Risse in einer Mauer, die jederzeit einstürzen konnte.
    »Da draußen, lieber Freund, sind Fremde den Einheimischen nicht willkommen. Aber zerbrich dir den Kopf nicht darüber. Es ist das Grauen, nichts weiter als das Grauen, dass ich mich selbst nicht aushalten kann. Und da draußen wollen sie dich nicht – dich, der du einmal ein anderer werden wolltest, bloß nicht du selbst. Jetzt weißt du, warum ich diese hässliche Uniform trage, warum ich mich verkleide. Der Staat zahlt außerdem meine Reisen mit der Eisenbahn.«
    Bartek antwortete dem Franzosen nicht, der ihn im nächsten Moment fragte: »Hast du eine Freundin? Wie heißt sie, dein Mädchen?«
    »Meryl Streep«, sagte Bartek. »Und sie spricht Polnisch, denn mein Englisch ist noch nicht so gut!«
    »Die Streep also! Eine gute Wahl«, meinte der Franzose. »Für dieses Mädchen würde ich alles opfern, sogar mein Leben!«
    Als sie das Plattenbauquartier mit dem orangefarbenen Wohnblock an der Luna erreichten, wurde Bartek bewusst, dass Opa Franzose neben Norbert der Einzige war, der seine Liebe respektierte und nicht in Frage stellte.
    »Ich bin ein alter Narr, das sollte dir inzwischen klar geworden sein«, sagte der Franzose. »Bevor wir zu deinen Eltern gehen, werden wir noch einer mir lieben Dame und verehrten Freundin einen Besuch abstatten. Einverstanden? Und erinnere mich bitte daran, dass ich dir noch den zweiten Grund für meine Rückkehr nach Dolina Ró ż verraten muss! Übrigens: Deine Fluchtpläne habe ich längst durchschaut! Lass dir nur eines sagen: Die Flucht aus unserem Städtchen wird dir nie gelingen. Ich habe auch versucht, Dolina Ró ż zu vergessen und aus meinem Gedächtnis zu löschen. Ich bin praktisch ein lebendes Beispiel dafür, dass die Erinnerung uns Menschen töten kann!«
    »Aber ich bin doch längst schon aus unserem Lunatal geflohen«, antwortete das Schusterkind. »Jetzt müssen Taten folgen, zumal ich kein Schuster werden will! Ich bin Eisenbahner − wie du, Franzose!«
    »Was für ein Unsinn! Du hast mindestens zwei, drei Leben vor dir! Die Zukunft ist dein wahrer Verbündeter, und das wäre ein fataler Fehler, wenn du dir bereits jetzt schon eine Uniform anlegen würdest, um sie bis zum Tode zu tragen!«, ärgerte sich der Franzose.
    Bartek nickte nur mit dem Kopf und schwieg, da er seinen Opa nicht noch mehr reizen wollte, obwohl er sich in seiner Wut kaum zügeln konnte: Das Schusterkind hasste es nämlich, wenn ein Erwachsener es zu belehren versuchte. Es fragte schließlich: »Wer ist diese Dame und verehrte Freundin, von der du so inbrünstig gesprochen hast? Doch nicht etwa unsere Nachbarin Natalia Kwiatkowska? Ist sie auch einmal eine deiner zahlreichen Geliebten gewesen?«
    »Du stellst zu viele Fragen, die einen Mann meines Alters beleidigen, mein Sohn! Ich muss dich schon bremsen …

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