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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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zurückgekommen bist«, sagte Monte Cassino. »Sie war schon immer in dich verliebt! Du wolltest bloß nie etwas von ihr – Gott sei Dank! Du bist uns allen mächtig auf der Nase herumgetanzt! Und während wir all die langen Jahre schufteten – für nichts und wieder nichts – und für unsere Sünden büßen mussten, bist du in der Weltgeschichte herumgereist!«
    Der Franzose schwieg, und Herr Lupicki nahm seinen Freund in Schutz: »Dafür aber ist er ein gebildeter Mann, der sich nichts gefallen lässt. Wir haben unsere Werkstatt bis jetzt nicht einmal für drei Tage geschlossen, um Urlaub zu machen, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern, weil wir Feiglinge sind.«
    »Feiglinge?«, staunte Monte Cassino. »Ich habe meine beiden Beine im Krieg für Hitler geopfert! Der Franzose hat sich gleich zu Anfang des Krieges kampflos gefangen nehmen lassen. Das ist die Wahrheit! Die Heutigen wissen gar nicht, wie gut sie es haben – sie mussten nicht an der Front kämpfen, mussten nicht hungern!«
    Herr Lupicki sagte: »Schweig, du nichtsnutziger Soldat einer geschlagenen Armee! Die Werkstatt ist unser Gefängnis, und da draußen können jeden Tag Sirenen heulen, Kühe verbrennen und neue Schlachten zwischen zwei verfeindeten Nationen geschlagen werden – wir dienen bloß dem einfachen Fußvolk, zu dem wir auch selbst gehören! Zu Recht! Wir müssen für unsere Dummheit einen hohen Preis bezahlen, weil wir vom Regieren nichts verstehen!«
    »Zum Teufel mit der ganzen Schusterei!«, fluchte Micha ł Kronek. »Mit lauter Idioten muss man sein ganzes Leben verbringen! O Herr! Was für eine Strafe!«
    Herr Lupicki sprach ein Machtwort, sodass niemand das Gespräch fortzusetzen wagte. In solchen Momenten, wenn er, der Chef, auf seine Angestellten wütend wurde, holte er aus der Totenkammer den Hauklotz, doch nicht etwa deshalb, um für den Kachelofen ein paar Holzscheite zu spalten. Er reagierte bloß seine Wut ab, und am besten gelang ihm dies – so auch jetzt −, wenn er einen Nagel nach dem anderen in den Hauklotz schlagen konnte, und zwar mit bewundernswerter Geschwindigkeit. Das war die schönste Schustermusik, die Bartek je gehört hatte.
    Norbert wurde von dem Lärm nicht wach und schlief weiter. Monte Cassino und Kronek schauten gebannt zu, wie ihr Chef die Nägel in den Hauklotz schlug. Die Schuster merkten nicht einmal, dass ihre Gäste die Mäntel angezogen hatten und offenbar keine Geduld mehr für ein weiteres Gespräch aufbringen konnten. Selbst der Mörder Baruch und die Hure Marzena, die beide sonst redselig waren wie die Händler auf dem Wochenmarkt, beendeten ihren vom Schnaps und Schneesturm verschuldeten Schlummer auf der Kundenbank und schlichen sich am Tresen vorbei nach draußen, obwohl zu Hause sie keiner erwartete.
    »Komm, mein Sohn!«, sagte der Franzose zu seinem Enkel. »Es wird Zeit, dass wir uns für die Nacht eine Bleibe suchen! Ich hoffe, dass deine Eltern mich noch kennen! Um unsere Freunde brauchen wir uns nicht mehr zu kümmern – als Weltverbesserer sind sie die glücklichsten Geschöpfe unter der Sonne! Merk dir das!«
    Sie gingen auf die Straße, ohne sich verabschiedet zu haben, und verschwanden im Schneesturm dieses frostigen Novemberabends. Die Musik der Schuster ließ sich aber nicht abschalten, sie dröhnte in ihren Ohren weiter.

Kapitel 5: Der Besuch im orangefarbenen Haus und die Stalinistin Natalia Kwiatkowska
    Ein Besuch bei Marcin hätte Bartek bestimmt gut getan, doch an diesem Abend musste er den Franzosen zu seinen Eltern begleiten. Es wunderte Bartek, dass die Tochter von Herrn Lupicki nicht in die Werkstatt gekommen war, um den Schustern eine heiße Kartoffelsuppe zu bringen. Und da die Lebensmittelläden längst geschlossen hatten und nur noch im Piracka , dem Tempel der Trinker, geschäftiges Treiben herrschte, schien es, als hätten sich alle Bewohner von Dolina Ró ż ins Bett gelegt. Die Warschauer Straße war zwar nach wie vor gesperrt, aber man hörte nichts mehr von der Feuerwehr und den Krankenwagen. In vielen Wohnzimmern strahlten die Fernsehapparate als einzige Lichtquelle, die meisten Fenster waren dadurch violett beleuchtet, wie die Operationssäle im Johanniter-Krankenhaus. Barteks Opa schwieg seit einigen Minuten beharrlich, und es machte ihm Mühe, im fußknöcheltiefen, frisch gefallenen Schnee zu waten; die wichtigsten Bürgersteige und Wege würde man erst am frühen Morgen wieder freischaufeln und mit Sand bestreuen.
    »Ich habe Angst«,

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