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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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waren, reichten der eifrigen Kirchengängerin völlig. Dass hier, in diesen bescheidenen Räumen, an deren Wänden billige Bilderreproduktionen von Jesus und Maria, von Engeln und Heiligen hingen, Olcias Töchter einmal zusammen mit ihren Ehemännern und Kindern gewohnt hatten, und zwar über ganze drei Jahre, konnte sich Bartek beim besten Willen nicht mehr vorstellen − dafür war seine Phantasie nun doch nicht groß genug. Er war in jenen Anfangsjahren der drei jungen Familien, als die schwarzhaarigen Töchter frisch verheiratet waren, jede Münze zweimal umdrehten und bei ihrer Mutter auf die Zuteilung einer Wohnung in einer der neuen Plattenbausiedlungen warteten, das beliebteste Kleinkind gewesen. Hania und Agata hatten Bartek wie ihren eigenen Sohn geliebt und ihn als Kleinkind oft betreuen müssen; ihre Schwester war schon damals, als Bartek noch im Kindergarten war, mehr mit ihren Schulprojekten beschäftigt gewesen als mit der eigenen Familie. Und in den beiden Zimmern in der Kopernikusstraße wurden eines Tages Etagenbetten aus der Gelben Kaserne aufgestellt – Onkel Fähnrich hatte sie besorgt. Es hatte auch regelmäßige Händel und Raufereien zwischen den drei blonden Schwagern gegeben, die ihre Frauen der Untreue verdächtigten, auf eine Geliebte nicht verzichten konnten und einer Liebesaffäre nie abgeneigt waren. Wenn sie Mariola trafen, wie eben im Frisiersalon von Herrn Tschossnek oder in der Schusterwerkstatt, stierten sie ihren verführerischen Körper an, ihre brünstigen Augen zogen die Tochter von Herrn Lupicki aus und entführten sie in die Totenkammer, in der man sich unbeobachtet und sicher fühlte.
    Das Badezimmer diente Oma Olcia immer noch als ihr privates Schlachthaus – hier schnitt sie den auf dem Wochenmarkt gekauften Gänsen und Hühnern die Köpfe bei lebendigem Leibe ab und ließ das Blut in eine Schüssel abtropfen. Sie rupfte den Tieren die Federn aus und tauchte sie kurz ins heiße Wasser. Sie sang dabei ihre Kirchenlieder, betete manchmal sogar, und jedes Mal brachte sie ihrem Gott auch ein Opfer: Die Federn, die abgeschnittenen Köpfe und die unbrauchbaren Innereien vergrub sie in ihrem kleinen Gemüsegarten im Hinterhof der Kopernikusstraße.
    Nach dem Abendbrot kam die Zeit der Gebete, für die sich Olcia in ihr Schlafzimmer zurückzog. Mit ihrem Mann hatte sie nur wenige Sätze gewechselt, und Bartek staunte, dass sie beide jedweden Streit vermieden. Innerlich kochten sie, ihre von den zahlreich ausgetauschten Höflichkeiten und dem gegenseitigen Respekt schwer gewordenen Zungen waren nämlich scharf und konnten es kaum abwarten, endlich frei zu sein und aufeinander losgelassen zu werden.
    »Warum bist du von uns so oft weggegangen?«, fragte Bartek den Franzosen, als sie sich vor den Fernseher setzten, um Nachrichten und den Wetterbericht zu schauen – Olcia würde sie, nachdem sie nach dem Abendbrot gebetet hatte, abfragen, der Wetterbericht für den nächsten Tag war ihr genauso heilig wie das Abendgebet.
    »Das wirst du noch nicht verstehen, aber ich gebe dir dennoch eine Antwort: Ich hätte es nicht ertragen, jeden Tag dabei zusehen zu müssen, wie sich meine Töchter und meine Frau langsam, doch Schritt für Schritt, dem Tod nähern würden. Ihre Sterblichkeit hat mich von ihnen abgestoßen. Und ich habe auch nie akzeptieren wollen, warum ich ständig loyal sein musste: nicht nur meiner Familie und meinem Staat gegenüber, sondern auch mir selbst. Wenn man so will, bin ich ein verdammter Moralist. Das Angebot, das uns die Welt − beziehungsweise das Universum − macht, wird von den meisten Menschen angenommen, ich aber habe es stets abgelehnt. Des Weiteren: Unsere Argumente für oder gegen das Weiterleben nach dem Tod sind so dürftig, dass mir nichts anderes übrig blieb, als zu fliehen … Ich will nicht, dass man über mich richtet – weder auf Erden noch im Jenseits! Mit anderen Worten: Ich bin vor mir selbst abgehauen – um mich selbst zu vergessen …«
    »Du unterschätzt mich − weil ich erst fünfzehn bin! Genau aus den Gründen, die du beschrieben hast, will auch ich aus dem Lunatal fliehen: am liebsten zusammen mit dir! Ich habe bloß eine Frage: Was heißt ›Unde malum‹?«
    Der Franzose runzelte die Augenbrauen, die sich für einige Sekunden nachdenklich zusammenzogen. Man sah ihm an, dass er wütend und gleichzeitig traurig war: »Was lernt ihr eigentlich in der Schule?«
    »Du weißt es selbst nicht, was diese Wörter bedeuten«, freute sich

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