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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Anton, der während des ganzen Vortrags von Marcin geschwiegen hatte, sagte zu Bartek: »So gefällst du mir, mein Junge.«
    Plötzlich gab es einen Heidenlärm, eine dunkle Gestalt schnellte hinter einer Mülltonne hervor und lief geradeheraus auf sie zu. Es geschah alles so blitzschnell und hektisch, dass Bartek und die anderen zur Seite sprangen. Der fixe Sprinter hatte ihnen mächtig Angst eingejagt, sie dachten zunächst, hinter den Mülltonnen verstecke sich eine Ratte oder eine Katze. Aber es war kein wildes Tier, sondern Schtschurek: Er stürzte zur Tür hinein und flitzte durch den Frisiersalon, erschreckte Mariola, die einen panischen Schrei ausstieß, und flüchtete nach draußen.
    »Er hat alles, was wir besprochen haben, mitgehört!«, sagte Marcin. »Diese Ratte! Ich bringe ihn um!«

Kapitel 9: »Ummagumma« und »Unde malum«
    Die erste Nacht bei Oma Olcia konnte eigentlich nur ein katholischer Alptraum werden: Für den Franzosen dürfte es jedenfalls gar nicht so einfach sein, dachte das Schusterkind, in einer Art Kirchenfiliale zu übernachten – gewissermaßen im Dienstmädchenzimmer eines Pfarrhauses. Bartek fand es geradezu absurd, dass sein Opa für die Zeit seiner Rückkehr ausgerechnet bei seiner Frau wohnen musste, da er doch schließlich an Gott, der in der St.-Johann-Kirche hauste und regierte, nicht glaubte und die Pfarrer hin und wieder als hochnäsige Mitglieder einer korrupten Männersekte bezeichnete, die − so der Franzose − Frauen den offiziellen Zugang zu Gott versperren würde. Seine jüngeren Töchter, Barteks Tanten Hania und Agata, wünschten ihm die Pest an den Hals und wollten ihn gar nicht erst sehen, doch spätestens am Sonntag würden sie mit ihren Ehemännern und Kindern zum Mittagessen bei Olcia kommen und dann den Franzosen wenigstens begrüßen müssen. Das Schusterkind war wütend, dass Opa Franzose bei seinen jüngeren Töchtern nicht willkommen war, letztendlich auch nicht bei Stasia, die ihn nur für eine Nacht hatte beherbergen wollen. Es war ihm schleierhaft, wie der Franzose in diesen vom Weihrauch der Heiligen Messe durchdrungenen Räumen, der schon seit einer Ewigkeit an Oma Olcias Kleidern haftete, schlafen sollte.
    Nach der Schachpartie und der Besprechung im Hinterhof des Frisiersalons besuchte Bartek zusammen mit seinem Opa Franzose Herrn Lupicki auf einen Schluck schwarzen Tee. Sie hatten ein Taxi bestellt und den Buckligen Norbert und Monte Cassino in die Schusterwerkstatt zurückgefahren, in der auch Monte Cassino übernachten wollte. Seit die Miliz den deutschen Spion aus Amerika gefasst hätte, wäre seine Hilde geradezu unausstehlich geworden, meinte er, sie hätte ihm wieder damit gedroht, in den Fluss zu springen, in die Luna − meistens sagte sie: »Ich gehe in den Fluss! Dann wirst du endlich deine Ruhe haben! Und deine Polen auch!« Sie übersetzte aus dem Deutschen am liebsten für Touristen, aber wenn sie von der Miliz oder Armee einen Auftrag bekam, wurde sie nervös und ängstlich. Sie fürchtete, man würde sie ins Gefängnis stecken und wegen ihrer deutschen, nein, ostpreußischen Vergangenheit verurteilen. »Du bist eine dumme Pute!«, beschimpfte sie Monte Cassino. Sorgen wie Hilde hatte Oma Olcia nicht. In ihrer Wohnung − zwei bescheiden möblierte Zimmer − gab es zwar keine Zentralheizung, doch dafür lebte sie in der Kopernikusstraße allein. Ihre Kinder waren schon vor langer Zeit ausgezogen, und sie überfielen ihre Mutter vor allem an Sonntagen, meist zum Mittagessen. Wie Heuschrecken leerten sie dann Olcias Kühlschrank und ihr Portemonnaie.
    Oma Olcia bereitete das Abendbrot zu, während Bartek in den Keller gehen und einen Eimer Steinkohle holen musste – er bat den Franzosen, er möge ihn begleiten wie in den früheren Jahren, als Bartek ein kleiner Junge war. Der Keller des uralten zweistöckigen Hauses in der Kopernikusstraße verfügte über eine marode elektrische Beleuchtung, die oft nicht funktionierte − eine Schachtel Streichhölzer oder ein Feuerzeug zum Anzünden der Kerze musste man immer dabei haben. Und es herrschte dort im Untergrund der Kopernikusstraße eine andere Dunkelheit − eine andere Dimension und Zeit − als auf den Winterstraßen von Dolina Ró ż . Die Decken waren niedrig, als würden in diesem Keller Zwerge arbeiten, und die hier und da von Balken gestützten Mauern bröckelten; durch ihr hohes Alter eigneten sie sich ausgezeichnet für die Aufnahme von Feuchtigkeit, die nun aus den

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