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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Wasseradern der Erde und der städtischen Kanalisation kam. Schwarze Spinnennetze hingen an den Decken, und der steinerne Fußboden war von der Steinkohle ebenfalls schwarz geworden. In jedem Keller, auch bei Oma Olcias Nachbarn, türmten sich die Steinkohlevorräte und die Holzscheite für den Kohleherd und Kachelofen deckenhoch. In dieser Straße wohnte man wie auf einem Pulverfass − ein Moment der Unaufmerksamkeit im Umgang mit den Streichhölzern und die Unberechenbarkeit der brüchigen elektrischen Leitungen konnten über das Schicksal unschuldiger Menschen schnell und brutal entscheiden. Aber das Schrecklichste war der Geruch: Der Gestank von Sauerkraut, Salzdillgurken und Benzin, aufbewahrt in Armeekanistern, und die Feuchtigkeit, abgesondert von den mittelalterlichen Mauern, vermischten sich zu einem beißenden Geruch des Todes. Und wenn man in diesen Abyssus hinunterstieg, um in Eile den Eimer mit Steinkohle zu füllen, betrat man automatisch das Reich der Toten – diesen Eindruck hatte Bartek, musste er einmal wieder seiner Oma Olcia einen Gefallen tun und ein Weckglas mit Kompott aus dem Keller holen. Furchterregender war es nur noch in den Kellerräumen der ehemaligen Wehrmachtskaserne, deren unterirdisches Labyrinth für Normalsterbliche ein Tabu war. Manche Lehrer und auch Schüler aus den höheren Semestern versuchten, die Erstklässler des Mechanischen Technikums zu veralbern, und sagten ihnen voller Ernst, in diesen Katakomben würden sich Wehrmachtssoldaten verstecken und noch immer auf das Ende des Krieges warten. In Wahrheit hielten sie selbst diese alberne Geschichte für gar nicht so abwegig: Immerhin bewohnten sie eine Stadt, die sie nicht gebaut hatten; sie hatten einen verlassenen Ort neu besiedelt, und das war so, als wollte jemand Machu Picchu zum neuen Leben erwecken, fand das Schusterkind, das gerne Bücher über untergegangene Zivilisationen las.
    Opa Franzose leuchtete seinem Enkel mit der Kerze, bat ihn, sich zu beeilen, sagte, er habe nichts gegen wilde Tiere, nur Hunde, Katzen, Spinnen und vor allem Mäuse und Ratten könne er nicht ausstehen, solche Geschöpfe der Natur also, die dem Menschen zu Hause Gesellschaft leisteten. Ihre Abhängigkeit vom Homo sapiens irritiere ihn. Er sagte, er habe sich sein Leben lang darum bemüht, unabhängig zu sein. Ja, das stimmt, aber auf Kosten deiner Familie und Freunde, warf ihm das Schusterkind in Gedanken vor, während es die Kohlebrocken mit bloßen Händen in den metallenen Eimer beförderte. Als Bartek mit der Arbeit fertig war, schloss der Franzose die Kellertür von Oma Olcias Orkus ab und sagte wie aus heiterem Himmel: »Du sollst dich von diesem Teufel Marcin fernhalten …«
    »Du kennst ihn gar nicht …«, antwortete das Schusterkind.
    »Ich habe euch heute beim Zigarettenrauchen im Hinterhof des Frisiersalons von Herrn Tschossnek beobachtet. Und Tschossnek, diese Plaudertasche, hat mich aufgeklärt, was deinen Kumpel Marcin angeht. Sein Vater ist brandgefährlich, und seinen Sohn benutzt er als Informanten, denn Marcin erzählt ihm alles. Verstehst du jetzt, was ich meine?«
    »Sein Vater ist doch kein Spitzel. Er ist ein langweiliger und staatstreuer Schulinspektor. Und man sieht ihn oft im Auftrag der Partei durch die Gegend fahren. Der kann mich am Arsch lecken, Opa!«
    »Dann frag Marcin, wenn du ihn das nächste Mal triffst, was denn sein Vater so jeden Tag treibt.«
    Sie gingen zurück zu Oma Olcia, die das Abendbrot zubereitet hatte. Der Franzose aß zwei Scheiben Brot mit von seiner Frau persönlich gepökeltem Schweinefilet und trank dazu nicht einmal ein Gläschen Wodka; er mochte den Alkohol nicht – Olcias Lebensweisheit, dass die Männer entweder dem Wodka huldigten oder den Frauen nachjagten, schien sich in seinem Fall zu bestätigen. Der Franzose liebte die Frauen, und der Wodka war ihm egal.
    In Olcias Wohnung gab es für einen Gast nur zwei Möglichkeiten zum Überleben: Man gewöhnte sich rasch an die im Badezimmer und in der Küche herrschende Kälte, oder man hielt sich vor allem im Wohnzimmer auf, in dem Olcia den Kachelofen mit Steinkohle zwar nur sparsam fütterte, doch immerhin war dort die Wärme sofort zu spüren, wenn man die Küche verlassen hatte. Zwei kleine Zimmer, die aufgeräumt waren wie in einem Hotel, die großzügige saubere Küche mit einer Vitrine und mit Schränken aus den Fünfzigern, das Bad mit der Toilette und den riesigen Plastikfässern, die voller Salzdillgurken und Sauerkraut

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