Der Lippenstift meiner Mutter
das Schusterkind über seinen Sieg.
Sie hatten die Fernsehnachrichten verpasst und mussten ihr Gespräch abbrechen: Oma Olcia kam vom Beten zurück und schimpfte sogleich: »Wenn man ohne Gebete schlafen geht, und das Abend für Abend, wird man krank: an Leib und Seele.«
Olcia stellte den Fernseher lauter, setzte sich auf das Sofa und verschränkte wie üblich die Arme – das tat sie immer dann, wenn sie einmal nicht Socken von ihren Enkeln zu stopfen hatte. Sie konnte keine zwei Minuten lang untätig sitzen bleiben, und Bartek war gespannt, wann ihre bösartige Zunge den Mann, der sie so viele Male allein gelassen hatte, endlich angreifen würde. Sie alle in Dolina Ró ż hatten bösartige Zungen und Ohren, die nur Böses und Schadenfrohes hören wollten, sodass sich Bartek manchmal fragte, ob auch er schon so verdorben und bösartig war wie all die anderen. Schließlich war er aus ihrem Blut entstanden, in diesem ewigen Winter von Dolina Ró ż , im violetten Krankenhaus war er auf die Welt gekommen, mit der Erbsünde im Gepäck, zum Tode verurteilt, dem Jüngsten Gericht ausgeliefert, ohne Chance auf Besserung bei der nächsten Reinkarnation. Nein, er musste genauso gebaut und misstrauisch sein wie sie. Aber ich bin es nicht, ich bin anders, protestierte er.
Olcia jedoch war still. Stattdessen hörte man den Franzosen Worte sagen, die sich zwar an seine Frau richteten, doch er sprach sie mit einem flüchtenden, das Gegenüber scheuenden Blick, als hielte er vor einem großen Publikum eine Rede: »Am meisten schmerzt es mich, dass du mich nie gesucht hast. Du bist nicht einmal zu einem Anwalt gegangen, um die Scheidung einzureichen …«
»Ich musste unsere Töchter ernähren, ankleiden und ihre Hausaufgaben kontrollieren – ich hatte keine Zeit zum Bücherlesen oder fürs Kino, schon gar nicht dafür, nach deinem Versteck zu suchen. Und den Ort, an dem du dich verkrochen hast, möchte ich gar nicht erst wissen.«
Für einen kurzen Moment verbarg der Franzose sein Gesicht in den Händen und meinte: »Ich habe gesündigt, ja, willst du mir die ganze Zeit durch die Blume sagen, Olcia, und ich gebe dir Recht. Nun, mir steht das Wasser wirklich bis zum Hals, und ich kann kaum noch atmen.« Er machte eine kurze Verschnaufpause, dann fuhr er fort: »Ich muss dir gestehen, dass ich mit einer anderen Frau eine Tochter habe …«
Bartek kam aus dem Staunen nicht heraus – wie kann einer bloß so mutig sein und seiner Frau ohne Umschweife sagen, wo ihn der Schuh drückt?
Olcia stand auf und stellte sich direkt vor ihren Mann, der sich im Sessel versteckte. Sie beugte sich vor, offensichtlich hatte sie dem Franzosen etwas Wichtiges zu sagen − sie sprach leise auf ihn ein, flüsterte ihm etwas ins Ohr, wobei ihre Nase im rechten Ohr ihres Mannes verschwand. Bartek kannte dieses eindringliche Sprechen von Olcia: Sie kroch in das Ohr ihres Gegenübers hinein und sprach und sprach, wie wohl einst Johannes der Täufer zu seinem Volk gesprochen haben musste und wie es der Fabrikdirektor Szutkowski immer noch tat, wenn er vor seiner Belegschaft auftrat und eine Fünfjahresplanrede hielt: »Möge Gott deine Tochter beschützen«, sprach Olcia von Sekunde zu Sekunde lauter, sodass Bartek alles verstehen konnte. »Wag es aber nicht, sie mir vor die Augen zu bringen! Ich würde sie sonst noch erschlagen, wie ich es mit meinen Gänsen und Hühnern vom Wochenmarkt tue!«
Das Schusterkind hatte von den Streitereien seiner Nächsten die Nase gestrichen voll, und um die Großeltern abzulenken und wieder zur Vernunft zu bringen, holte es aus der Küche seinen Rucksack und daraus die Kassette mit seiner Lieblingsradioaufnahme: »Ummagumma«.
Marcin verbrachte fleißig viele Stunden am Radio und nahm Schallplatten auf, die in kompletter Länge gesendet wurden – dafür hatte Bartek keine Geduld, doch er war seinem Freund dankbar für diesen Radiodienst. Dank Marcins Hilfe hatte er entdeckt, wie sehr er die wilden Kopfjägertänze zu der Musik von »Ummagumma« liebte. Sie waren heilsam, und sie würden auch seine Großeltern vor dem Groll, den sie in ihren müden Herzen gegeneinander hegten, bewahren − da war er sich sicher.
»Bevor ihr einander umbringt«, sagte das Schusterkind, »werde ich euch meinen Lieblingstanz vorführen – leider habe ich keinen Lippenstift dabei, und den von dir, Olcia, mag ich erst gar nicht ausprobieren, ich will auch nicht heimlich in deinen Kosmetika herumwühlen … Wenn ich mich jedoch
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