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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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    Edga wi we sse
    Lajm fin mi
    Ssind min grin ssan
    Ran aj ssi woter on gran.
    Sobald das erste Musikstück auf der Kassette zu Ende war, verneigte sich Bartek vor seinem Publikum und sank erschöpft auf die Knie: In dieser Haltung verharrte er nicht lange, er war lediglich froh, dass er endlich aufatmen und ein wenig entspannen konnte. Er hatte gedacht, der erste Song würde wesentlich kürzer sein, aber während des Tanzens wollte das Lied ganz einfach nicht enden. Er sammelte seine Kleider ein und zog sich in Eile an, weil er fürchtete, dass ihn seine Großeltern auslachen und womöglich sogar einen Rettungswagen des Johanniter-Krankenhauses anrufen würden – aus Sorge um den seelischen Zustand ihres Enkels. Er sah schon im Geiste die Sanitäter in weißen Kitteln, wie sie die Treppe zu Olcias Wohnung hochliefen, mit den Fäusten gegen die Tür ballerten, ihn anschrien und aus der Wohnung zerrten, dann trotz seines hartnäckigen Widerstandes den langen Weg zum Rettungswagen schleiften …
    Seine Befürchtungen entpuppten sich rasch als falsch, denn der Franzose und Oma Olcia waren begeistert. Der erste Gedanke, der ihm vor dem psychedelischen Tanz in den Kopf gekommen war, nämlich dass er sich vor den Großeltern wegen seiner Kopfjägertänze aus Neuguinea nicht zu schämen brauchte, war richtig gewesen: Nach zwei, drei Lobeshymnen und nachdem er sich vollständig angezogen hatte, umarmten sie ihren Enkel. Die Umarmungen interpretierte das Schusterkind als Ausdruck der Anerkennung für seine künstlerische Vorführung. Er dachte: Siehst du, Krzysiek, so dumm und krank, wie du es darstellst, bin ich nun doch nicht!
    »Wo hast du das Tanzen gelernt, in der Schule oder im Kulturhaus?«, fragte ihn der Franzose.
    »Ich hab’s mir selbst beigebracht!«
    »Unfassbar! Mein Sohn!«, sagte Olcia voller Freude. »Deine Musik mag ich auch – obwohl ich kein Wort Englisch verstehe!«
    Opa Franzose guckte grinsend Bartek an, da ihm scheinbar klar geworden war, dass sein Enkel ein begabter Imitator und Clown war: »Mit so einem Talent geht man zum Theater«, meinte er.
    Olcia machte es sich auf dem Sofa bequem. Sie legte die Beine hoch, sodass man im Schritt ihre weiße Unterhose sehen konnte. Der Bluthochdruck, der sie mit Kopfschmerzen und Schweißausbrüchen quälte, war auch dafür zuständig, dass sie unter extremen Hitzeattacken litt. Zu Hause, sobald sie von der Kirche oder den Einkäufen auf dem Wochenmarkt zurückgekommen war, zog Olcia sich sofort um: Ihre Kostüme hängte sie in den Kleiderschrank − zu Hause trug sie alte, an den Nähten hier und da geflickte Sommerkleider, egal, wie kalt es draußen sein mochte; in geschlossenen Räumen war es ihr immer zu warm.
    »Was glotzt ihr mich so an?!«, erboste sie sich. »Habt ihr noch nie schöne Frauenbeine gesehen?«
    Sie hatte Krampfadern, war pummelig-klein, krummbeinig und musste auf gesunde Ernährung achten; das Essen aus der Großküche von Bergen-Belsen war ihr nicht bekommen − seit ihrem Aufenthalt in dem niedersächsischen KZ hatte sie einen empfindlichen Magen und ab und zu Verdauungsprobleme, ihre Magenflora, erzählte sie immer wieder, sei von den Nazis beschädigt worden – dafür verlange sie nicht einmal eine Entschädigung. Ihre strengen Fastenkuren zu allen katholischen Festen waren im ganzen Städtchen berüchtigt, ihre Freundinnen und Töchter fürchteten, dass Olcia sich noch zu Tode hungerte.
    Bartek war über Olcias Wutausbruch verblüfft. Wie kommt sie auf die Idee, fragte er sich, ich würde sie und andere Frauen wie ein Spanner heimlich beobachten? Okay, andere Frauen, vor allen Dingen wenn sie jung sind, gefallen mir schon. Aber du, Olcia, du bist die Mutter meiner Mutter! Du hast in deinem ganzen Leben wahrscheinlich nur dreimal Sex gehabt, wobei du nach jedem Geschlechtsverkehr mit dieser französischen Briefmarke schwanger geworden bist! Du wagst es dennoch, mich zu verdächtigen, es würde mich erregen, wenn ich dein nacktes Fleisch zu sehen kriege? Ich liebe doch nur meine Meryl, und sie ist jung und hübsch, wie Mariola und deine Töchter … Nein, ich bin Judasz , das Guckloch in der Tür, ich liebe es, euch nachzustellen und zu beobachten, als wäret ihr Tiere in der Wildnis … Olcia hat mich erkannt, ja!, sie weiß nun über mich Bescheid, dachte das Schusterkind.
    Bartek würde es nie vergessen, wie er einmal nach einer deftigen Tracht Prügel von seinem Vater, der ihn eines Gelddiebstahls beschuldigt hatte, zu Tante

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