Der Lippenstift meiner Mutter
Agata und Onkel Versicherung geflohen war. Sie waren zwar nicht zu Hause, er besaß aber einen Schlüssel zu ihrer Wohnung, da er dort öfters übernachtete, jedoch nur dann, wenn Onkel Versicherung als Hochzeitsklezmer verreist war. Aus Langeweile und Wut auf den Vater schminkte und verkleidete sich Bartek als eine Filmdiva. Er zog Tante Agatas schönstes Abendkleid an, das ihm sogar passte, obwohl er damals erst dreizehn war. Plötzlich aber hörte er, dass jemand die durch drei Schlösser gesicherte Wohnungstür öffnete, und er bekam Angst, dass sein Vater ihn entdecken könnte. Er versteckte sich im Wohnzimmer, und zwar in einer Ecke, in der Onkel Versicherung das Schlagzeug und die elektronische Orgel Vermona (das DDR -Produkt war sein ganzer Stolz!) aufgestellt hatte. Hier übte er für seine Klezmerauftritte auf den Hochzeitsfesten. Das Schusterkind hockte in Embryostellung hinter einem Sofa – geduckt, mit eingezogenen Beinen und dem Kinn auf dem Teppich − und stellte bald erleichtert fest, dass es sich mit seiner Vermutung geirrt hatte. Tante Agata und ihr Mann waren nach Hause zurückgekommen, allerdings ohne ihre beiden kleinen Söhne. Doch als Bartek gerade sein Versteck verlassen wollte, hörte er ein lautes wonniges Schmatzen und Jauchzen, Geräusche, die ihm bekannt waren. Das junge Ehepaar liebte sich auf dem Teppich; ohne viel Worte zu verlieren, war es gleich zur Sache gekommen, und Bartek sah zum ersten Mal in seinem Leben etwas, was es nicht einmal im Kino Zryw zu sehen gab, obwohl er das Filmprogramm seit Jahren verfolgte und insbesondere die Empfehlungen von Marcin beachtete. Er sah, wie der Lippenstift von Tante Agata in Onkel Versicherung eindrang und ihn um seinen Verstand brachte.
Seit dieser zufälligen Begegnung mit dem Unbekannten und Unfassbaren auf dem Teppich bei Tante Agata war das Schusterkind auf den Geschmack gekommen − in der Tat −, und es suchte sich oft ein Versteck, von dem aus es heimlich irgendwelche Liebespaare beobachten konnte: im Sommer die unverheirateten Ausflügler im Stadtwald, im Winter seine Tanten und die blonden Schwager; einmal war ihm sogar ein Supercoup gelungen – es hatte Mariola mit einem Fremden in der Totenkammer der Schusterwerkstatt erwischt.
Leider musste Bartek sein Versteck aufgeben – seine Blase drückte. Leider tauchte er ausgerechnet im intimsten Augenblick des Liebesaktes hinterm Sofa auf, als Onkel Versicherung, der ganz klein geworden war, mit piepsiger Stimme seiner Frau davon zu erzählen begann, dass er wieder den Großen Bären sehen könne, am helllichten Tage – ja, er sei der Große Bär, der beste Schlagzeuger und Orgelspieler und Versicherungsvertreter am Himmel von Dolina Ró ż .
Den Großen Bären und sein Piepsen würde Bartek auch nie vergessen.
»Du Schwein!«, schrie Onkel Versicherung das Schusterkind an, während er seine Hose hochzog. »Du verdorbenes Miststück – ich bringe dich um! Dieser Bengel ist krank – Krzysiek hat Recht!«
Bartek hatte aber viele Leben, und so geschah es, dass er auch die Prügel von Onkel Versicherung unbeschadet überstand, und er musste wieder einmal das Weite suchen.
Das Dasein eines Voyeurs führte Bartek bis heute, und Meryl hatte ihn wegen seiner Leidenschaft nie getadelt. Sie verließ ihn später, aber aus ganz anderen Gründen.
Oma Olcia ging immer früh schlafen, meistens kurz nach zehn, nach dem Ende des Fernsehfilms, so auch an diesem Abend, und nichts konnte sie von ihrem Ritual abhalten, nicht einmal die Tatsache, dass ihr verschollener Mann nach Hause zurückgekehrt war.
»Wirst du nicht zu ihr ins Bett kriechen? Hast du keine Sehnsucht nach deinem eigenen Fleisch?«, fragte er Opa Franzose, als sie beide auf dem zum Schlafen hergerichteten Sofa lagen, mit offenen Augen und unterm Kopf verschränkten Armen. Ihre Blicke bahnten sich in der Dunkelheit den Weg zum Fenster hin: Vor ihm hingen Olcias Gardinen, und das Fenster spendete ausreichend Helligkeit, damit sie in der Nacht die Umrisse ihrer Schlafstätte und Gesichter und sogar den bewölkten Himmel sehen konnten. Von der Straße her gelangte zu ihnen nach oben in die Wohnung von Olcia das violette Licht der Fernsehmonitore und der Operationssäle des Johanniter-Krankenhauses. In den Plattenbausiedlungen, die in erster Linie von Arbeitern, Angestellten und Beamten bewohnt wurden, hatte die Regierung das Sagen; es war ihr Herrschaftsgebiet, und dennoch war sie machtlos gegen die Ausstrahlung der katholischen
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