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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Kaffee oder eine Tafel Schokolade aus der BRD verkaufen möge, da sie wussten, dass sie zu Ostern und Weihnachten Pakete von ihren Verwandten und ehemaligen Schulfreundinnen bekam. Aber die Miliz würde Bartek bestimmt nicht eine Entschuldigung zur Vorlage bei seiner Klassenlehrerin ausstellen, und Oma Hilde würde es auch nicht tun, da sie Polnisch nicht schreiben konnte. Und nach dreißig Jahren Schwerarbeit in einer Großküche, in der sie von morgens bis abends Kartoffeln geschält und Tausende von Schweineschnitzeln geklopft, paniert und gebraten hatte, versagten ihr die Finger mittlerweile den Dienst, sodass sie nur mit Mühe ihre Unterschrift unter ein Dokument setzte. Im Polnischen hieß sie Hilda, was das einzige Wort war, das sie in dieser für sie fremden Sprache korrekt schrieb. Die verkrümmten Finger von Oma Hilde, die man normalerweise für die bösen Früchte des Rheumatismus halten müsste, erinnerten Bartek an Hakenkreuze, die Schtschurek ab und zu an die Außenwände des Parteigebäudes oder des Mechanischen Technikums malte: in Hast und Angst, weil man ja von einem Passanten bei der Miliz oder dem Schuldirektor verpfiffen werden konnte.
    Trost fand Hilde bei ihrem Mann nur selten, dafür war Monte Cassino, der auf seine polnisch-galizische Herkunft und Wehrmachtsvergangenheit überhaupt nicht stolz war und dessen Schusterherz für Polen schlug, zu desillusioniert, um auf rosa Wolken zu schweben und seiner Frau die Wahrheit vorzuenthalten; er erklärte Hilde ruhig und nüchtern die Sachlage, die ihr eigentlich bekannt war: »Freu dich, dass du überhaupt ein neues Zuhause und eine Arbeit von den Polen bekommen hast, dass du nicht betteln musstest. Ihr habt den Krieg verloren, die Polen hätten dich neunzehnhundertfünfundvierzig auch steinigen können – ich weiß doch, was wir im September neununddreißig mit meinen Landsleuten angestellt haben, ich bin ja dabei gewesen …« − »Das musst du gerade sagen, du der Soldat einer geschlagenen Armee«, wiederholte Hilde Herrn Lupickis Worte. Aber Monte Cassino hatte darauf stets diese eine Antwort: »Man hat mich gezwungen mitzumarschieren – sonst hätten sie mich erschossen. Und ich hab’s bis zum Schluss nicht ausgehalten – es will mir bloß keiner glauben, dass ich aus dem Lazarett abgehauen bin, zudem noch ohne Beine! Ja, auf meinen Händen bin ich davongelaufen!« − »Du lügst wie gedruckt«, empörte sich seine Frau. »Die Amerikaner haben dich befreit und gerettet!«
    Opa Franzose war wach, wälzte sich aber unruhig unter seiner Bettdecke, offenbar konnte er keine bequeme Liegeposition finden. Bartek zog sich in Eile an, er wusch sich nicht einmal, er musste eigentlich längst auf der Straße sein, auf dem Weg ins Plattenbauquartier. In Olcias Schlafzimmer war es noch totenstill, vor acht würde sie nicht aufstehen. Draußen dämmerte es bereits, es war ein zäher Kampf zwischen der Sonne und der Nacht. Ein kalter milchiger Nebel hing über dem Städtchen, senkte sich tief herab, berührte fast den Straßendreck, der von der Erde nur dann verschwand, wenn frischer Schnee gefallenen war. Die Nacht hielt den Morgen noch immer in ihren Greifzangen fest. Die Sehnsucht nach der Sonne wuchs im Dezember ins Unermessliche, nicht nur bei Bartek und seinen Freunden. Selbst Herr Lupicki beklagte sich ab und zu über die schläfrige Dunkelheit, über die ewige Nacht des Winters, über den gnadenlos trunkenen Schneetanz von Dolina Ró ż : »Sie ist unser Untergang − diese Schneeplage, schlecht fürs Geschäft und Gemüt«, sprach er resigniert, wenn er die schmutzige, von Nikotin angefressene Gardine drei Fingerbreit zur Seite geschoben hatte, um durch das Fenster seiner Werkstatt einen Blick nach draußen zu wagen, obgleich er oft kaum etwas erkennen konnte, da es wieder schneite.
    »Ich habe dir noch etwas Wichtiges mitzuteilen«, sagte der Franzose; er richtete sich auf, setzte seine Füße auf den Fußboden. Seine Zehennägel waren erschreckend weiß, wie bei einem Säufer, violette Punkte und Äderchen bedeckten seine Schienbeine. Es war der lebendige Menschentod, der da auf dem Rand des Schlafsofas saß und der zu Bartek aus der großen weiten Welt gekommen war – so empfand es das Schusterkind: Der Franzose, ein toter Mann, der bei seinen Freunden aus der Schusterwerkstatt im Laufe der Jahre mehr und mehr in Vergessenheit geraten war und dessen Name seinen eigenen Töchtern nicht einmal auf wichtigen Familienfesten über die Lippen

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