Der Lippenstift meiner Mutter
Priesterkleider und gegen die Todeslichter der Operationssäle. Bartek hatte vor den Technokraten der Regierung, die jeden Bürger überwachen wollten, keine Angst. Früher oder später würden auch die Machthaber und ihre Diener vom violetten Licht des Todes verschluckt werden, und das freute Bartek. Ihre Überwachungstechnik war primitiv, fand das Schusterkind, das auch der Meinung war, dass es der Regierung nie gelingen würde, ein Paradies auf Erden zu schaffen und dem Menschen das ewige Leben zu garantieren. Ihre Versprechungen waren Lügen, da hatte Anton Recht. Sie brauchte bloß Sklaven – für ihre Fabriken, Kasernen, Ämter und Götzen.
»Warum gehst du nicht zu Olcia?«, fragte das Schusterkind.
»Vielleicht später. Jetzt will ich dir erklären, was ›Unde malum‹ heißt, doch dafür muss ich weit ausholen, obwohl ich keine Kraft mehr für lange Ausführungen habe. Tschossneks Frau ist ein Torpedo, sie hat mir heute Vormittag meine Haut komplett abgezogen und wieder überstülpt − so fühle ich mich −, und ich bin auch nicht mehr der Jüngste! Du magst mir also verzeihen, wenn ich mal den Faden verliere …«
»Das Lied von der Perle«
»Mein Vater war kein Tyrann, und dennoch musste ich mich als Jüngling oft vor ihm in Acht nehmen. Er war ein ungeduldiger, leicht reizbarer Mensch, der seinen Beruf nicht allzu sehr mochte und der außerdem einen Hang zum Größenwahn hatte. Als Gelehrter und Postdirektor war er zwar eine angesehene Persönlichkeit in unserem westukrainischen Nest, aber im Grunde genommen wäre er am liebsten ein russisch-orthodoxer Mönch und Einsiedler geworden, ein Starez also seltsamerweise, denn er war katholisch, richtig katholisch, sprich: Er hatte in Polen eine Geliebte und reiste viel durch die Lande. Er verprügelte mich stattlich, wenn ich meine Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht hatte – die heutigen Gymnasien kann man mit denen, die es zwischen den beiden Weltkriegen gegeben hat, gar nicht vergleichen. Die strenge Disziplin brachte hervorragende Früchte, auch bei solchen Faulpelzen und Anarchisten wie mir. Ohne gute Lateinkenntnisse hattest du zumindest keine Chance gehabt, unsere Schule mit einem Reifezeugnis zu verlassen. Mein Vater unterrichtete mich jedenfalls zusätzlich in Philosophie, Politik und Theologie und hoffte, dass ich eines fernen Tages seinen Traum, den er für mich träumte, erfüllen würde: Professor an einer berühmten Universität zu sein. Und eine Sache war äußerst erstaunlich: Er sprach dauernd davon, ich solle viel reisen und gar nicht erst damit anfangen, nach einem Zuhause und nach Familienglück zu suchen. Er schickte mich auf Reisen, und so lernte ich unsere Verwandten und Freunde auf dem Lande und in polnischen Großstädten kennen. Eine Geschichte, die ›Das Lied von der Perle‹ heißt, habe ich mir aus seinem Munde einige Male angehört, und diese will ich dir nun erzählen. Da war also ein Kind, das in einem wohlhabenden Haus seines königlichen Vaters im Osten glücklich aufwuchs und keine Sehnsucht nach fremden Ländern hatte. Seine Eltern waren aber nicht nur reich, sondern auch klug. Sie beschlossen, ihr einziges Kind mit einem schwierigen Auftrag zu betrauen und auf eine Abenteuerreise zu schicken: Es sollte ihnen aus Ägypten eine Perle stehlen und mitbringen, die von einer Schlange bewacht wurde. Nichts leichter als das, dachte sich der Junge und nahm die Herausforderung leichten Herzens an. Da er ein prachtvolles Kleid trug und der Reiseweg voller Gefahren war, wurde er von zwei ergebenen Dienern seiner Eltern bis an die Grenze ihres östlichen Königreichs begleitet. Von dort aus musste der Junge allein weiterreisen, und er passierte die Grenze von Maišân, dann durchquerte er das Land der Babylonier und gelangte später in die Stadt Sarbûg, bevor er ins Nildelta aufbrach. Angekommen in Ägypten, machte er sich sogleich daran, seinen Auftrag zu erfüllen. Um nicht als Fremder erkannt zu werden, legte er sich die Kleider der Einheimischen zu, obwohl sie ihm nicht gefielen: Sie waren aus einem groben, unangenehm riechenden Stoff geschneidert. Leider half seine Verkleidung herzlich wenig, jeder wusste sofort, dass er ein Ausländer war. Und während er in einer Gaststätte darauf wartete, dass die Schlange einschlief, damit er ihr die kostbare Perle stehlen konnte, entdeckte er in der feiernden Menschenmenge einen hübschen und in teure Stoffe gekleideten Jüngling, der durch seine Anmut hervorstach. Er konnte sich
Weitere Kostenlose Bücher