Der Lippenstift meiner Mutter
löchrig, standen auf dem Tresen – zur Begutachtung. Die Absätze und Sohlen waren schon mehrmals gründlich erneuert worden, und Herr Lupicki kam aus dem Staunen nicht heraus: »Diese Schuhe sind wie dein Leben, Franzose!«, rief er in Richtung der Totenkammer. »Man kann sie noch tragen und sogar immer wieder neu besohlen und ihre Löcher zunähen und -kleben, doch sie sind eigentlich kaputt, nicht mehr zu gebrauchen. Deine Treter würde ich nicht einmal in der Totenkammer abstellen. Und weißt du was? Ich werde sie nach Feierabend in unserem Kanonenofen verbrennen!«
Herr Lupicki verbrannte liebend gern kaputte und abgenutzte Schuhe: Er tat es selten, da der Kanonenofen als Schuhkrematorium wenig taugte. Außerdem gab es nach jeder Verbrennung – er nannte sie »Einäscherung« − von abgetragenen und aussortierten Kundenschuhen einen heftigen Streit mit Monte Cassino und Micha ł Kronek – wegen des entsetzlichen Gestanks, denn das Gummi und der Kautschuk waren von einer so schlechten Qualität, dass während der Verbrennung ein beißender Rauch entstand: für Monte Cassino, der an den Augen und der Nase sehr empfindlich war, hatte dieser giftige Rauch meist schlimme Konsequenzen. Seine Augen juckten erbarmungslos, und er musste für zwei, drei Tage zu Hause bleiben.
Herr Lupicki begutachtete fachmännisch die Halbschuhe des Franzosen und sagte: »Am liebsten würde ich jedes Paar Schuhe, die ausgedient haben, auf unserem Friedhof gegenüber der Molkerei bestatten. Meinetwegen in einem Massengrab! Die Leute haben keinen Respekt mehr vor der Erde, die sie trägt. Ihre eigenen Füße sind ihnen nicht heilig, und ihre Schuhe behandeln sie stiefmütterlich. Sie kaufen sich ständig neue!«
»Wahre Worte«, pflichtete ihm Monte Cassino bei. »Ich bin froh, dass ich keine mehr brauche. Die Räder meines Rollstuhls sind zuverlässiger!«
Jeder wusste, dass er log: Unter seinem Bett standen nämlich schwarze Sonntagslackschuhe aus feinstem Leder in einem Karton. Er putzte sie einmal in der Woche, stellte sie auf den Küchentisch, schaute sie von allen Seiten an, sprach mit ihnen und ließ sie wieder im Schuhkarton verschwinden. Seiner Frau Hilde erzählte er, entweder würde er das schicke Paar Größe dreiundvierzig mit ins Grab nehmen oder kurz vor seinem Tod Bartek schenken. Und hatte es sich in Dolina Ró ż herumgesprochen, dass der Schuhladen eine Warenlieferung erwartete, wurde das Geschäft von einer ungeduldigen Meute gestürmt, und es war ein Wunder, dass kein einziges Mal das Schaufenster zu Bruch gegangen war.
»In meiner Kindheit«, fuhr Herr Lupicki fort, »habe ich die Treter meines älteren Bruders seligen Angedenkens tragen müssen. Allerdings konnte ich nur dann ausgehen, wenn er zu Hause blieb. Unsere Eltern waren emsige Leute, die aber nie Geld hatten, obwohl sie sich zu Tode schufteten, und ich schämte mich, dass ich im Sommer barfuß zur Schule gehen musste. Aus Wut auf die wohlhabenden Kinder habe ich oft die Schule geschwänzt! Und dennoch kann ich mich nicht beschweren. Mein Vater ist auch Schuster gewesen – ich habe den Beruf von ihm erlernt. Ich verdanke ihm sehr viel!«
»Wahre Worte«, meinte Micha ł Kronek, der seinen Gegner Monte Cassino oft nachäffte, um ihn zu provozieren. Man hatte den Eindruck, Monte Cassino sei für ihn eine Strohpuppe in Wehrmachtsuniform.
Opa Franzose kam in den ihm geschenkten Winterstiefeln und mit einem breiten Lächeln im Gesicht aus der Totenkammer gestapft und wandte sich an Herrn Lupicki: »Bei der Eisenbahn wirst du nicht reich – sie schenken dir nicht einmal vernünftige Winterstiefel! Ich danke dir, mein Freund! Sie passen mir ausgezeichnet! Als wären sie für mich persönlich gemacht worden!«
»Bedanke dich bei meinem Kunden, einem bekannten Juristen – er war Alkoholiker, doch das sollte dir kein Kopfzerbrechen bereiten. Er ist letzten Winter bei einem Autounfall umgekommen – allerdings vor den Einfahrtstoren unseres Friedhofs. Phi! Sachen gibt’s!«
»Ich trage Stiefel eines Toten?«, wunderte er sich. »Das ist ja so, als müsste ich sein Leben auf Erden fortsetzen und für seine Taten Verantwortung übernehmen!«
»Du hast keine andere Wahl«, antwortete Herr Lupicki. »Es sind die besten, die meine Totenkammer hergibt.«
Draußen, als das Schusterkind und der Franzose dann zu der Verabredung mit Natalia Kwiatkowska gingen, sagte Barteks Opa: »Ich habe endlich warme Füße! Und ich bin endlich wieder zu Hause! War es
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