Der Lippenstift meiner Mutter
Stadtbibliothek galten eigene physikalische Gesetze: Man verfiel schnell in einen schwebelosen Zustand und musste sich gegen die Angriffe der Schläfrigkeit und Ermattung mit allen vorhandenen Körperkräften wehren. Und die Bücher, zusammengepfercht in den endlosen Regalreihen, schliefen so fest wie Säufer, die nach einer durchzechten Nacht halbtot ins Bett gekrochen waren und das erlösende Reich des Nirwanas betreten hatten.
Jedenfalls war es nicht so einfach, die Bücher aus ihrer Apathie zu wecken. Und selbst wenn man mehrere Seiten gelesen hatte, wollten die Bücher ihre intimsten Geheimnisse nicht preisgeben. Bartek musste sich jedes Mal, wenn er in der Stadtbibliothek seine Hausaufgaben erledigte, zwingen, wachen Geistes zu bleiben: Es war Knochenarbeit.
Nur prominente Büchereibesucher genossen so erlesenen Service: Bartek wurde ein Glas schwarzer Tee gebracht – mit zwei Zuckerwürfeln, die den Rand einer Untertasse schmückten. Er war der Sohn von Stasia, das Schusterkind der bekannten Lehrerin und Aktivistin, der Träger ihrer Nationalfahne, des weißen Hemdes, das er nicht nur an den Schulappellmontagen anziehen musste; die Launen der Mutter hatte er gefälligst zu respektieren.
Er las die Gedichte von Natalia Kwiatkowska und konnte nichts Anstößiges oder gar Verbotenes entdecken. Über ihren Gott Stalin schrieb sie in einer kurzen Liebeserklärung Folgendes:
ich möchte
Deine Lilja Brik sein
Deine tochter
und genossin –
Dein werk
Du gütiger morgen=stern
der neuen welt
Du maul = korb unserer peiniger
Du hast uns geheilt
aus Deinen worten
ist
unser täglich = brot
und der himmel über uns
kein sarg mehr ---
Bartek merkte nicht, wie schnell die Stunden vergingen. Er machte sich Notizen und las auch solche Gedichte, die Natalia Kwiatkowska über das Lunatal und ihr Städtchen geschrieben hatte, das sie »den Fingerhut der Milchstraße« nannte. Sie schrieb auch über ihre Mutter Jadwiga, über das Leben einer einfachen Bäuerin, und sie verteidigte die Frauen und Genossinnen, die keine Familie gegründet und ihre ganze Kraft und Energie dem Wohl der Allgemeinheit und der Partei geopfert hatten. »Im geistigen Uterus dieser Frauen«, schrieb sie, würde dafür »der Neue Mensch« heranwachsen, der eines Tages den ganzen Planeten Erde bevölkern und zu einem von »Ausbeutern und Sklaventreibern« freien »Fabrik-, Feld- und Gedankenarbeiter« werden würde.
Das Schusterkind musste seine Arbeit unterbrechen – die Bücherei schloss pünktlich; die Damen, die Bartek die Materialien und den Tee gebracht hatten, waren aus ihrem Bücherschlaf aufgewacht – ihr Tag konnte nun endlich beginnen. Immerhin war es ihm gelungen, zwei A4 -Blätter zu schreiben, die Seiten lagen auf dem Tisch vor seiner Nase und lächelten ihm zu: »Junge, du hast es geschafft!« Er konnte zwar seine eigene Schrift kaum entziffern, aber er war stolz auf sich. Morgen würde er den Aufsatz korrigieren, lesbar abschreiben und Marcin zur Kontrolle geben – der Aristokrat des Denkens und Handelns war auch ein ausgezeichneter Kritiker und Lektor.
Am Broadway war die Nacht in ihrer ganzen Intensität schon ausgebrochen. Der Abend hatte erst gar keine Chance gehabt, sich auf den Straßen von Dolina Ró ż auszubreiten. Im Prinzip existierten bestimmte Zeiten, Tagesphasen und Stimmungen in Barteks Städtchen nicht mehr. Der Winter war so sehr in die Nacht vernarrt, dass er am Tage dem Licht − seinem Widersacher, auf den er eifersüchtig war − nur für wenige Stunden die Herrschaft über das Lunatal überließ. Und selbst in dieser kurzen Phase der Erhellung und des Erwachens, wenn die Sonne spärlich zwischen den Wolken auftauchte, war es überall grau und düster.
Kurz nach achtzehn Uhr kam das Schusterkind in der Werkstatt von Herrn Lupicki an, in der wie üblich ein reger Betrieb herrschte. Die Hure Marzena und der Mörder Baruch genossen wie im Tran die Wärme des Kanonenofens, und Norbert schlief auf einem Hocker, sein Kopf ruhte auf dem Tresen. Die Mannschaft Herrn Lupickis war vollzählig und spielte wieder ihre Schustermusik. Opa Franzose war auch da, er hatte sich scheinbar von Barteks Mutter zu diesem Besuch bei seinem alten Freund überreden lassen, denn er probierte in der Totenkammer, deren Tür weit aufgerissen war, ein Paar Winterstiefel an, die ein Kunde vor vielen Jahren zur Reparatur abgegeben hatte. Die Halbschuhe des Franzosen, vollkommen durchnässt, ausgebeult und
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