Der Lippenstift meiner Mutter
sterblich wie alle anderen Menschen. J ę drusik, ein begabter junger Mann, ließ sich nicht aus der Fassung bringen und sagte lediglich, dass er niemanden zwingen wolle, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. Er sei eben ein schlechter Fischer, das müsse er, Krzysiek, akzeptieren. Nach diesen Treffs − einmal jährlich − fühlte sich Barteks Vater darin bestärkt, dass er klüger wäre als die Diener der Kirche und dass jeder das Recht hätte, die Bibel auf seine Art und Weise zu lesen. »Diese Pfaffen! Sie werden mir nicht diktieren, was ich zu denken und zu glauben habe«, prahlte er vor seiner Frau.
Krzysiek und der Pfarrer J ę drusik wunderten sich, als sie von Bartek erfuhren, dass der Franzose Natalia Kwiatkowska besuchen wolle. »Mein Sohn, ich hoffe, du weißt, was du tust!«, sagte J ę drusik zu Opa Franzose. »Ich habe viel von dir gehört! Du bist mir nicht unbekannt!« Und Barteks Vater, dem diese zufällige Begegnung unangenehm zu sein schien, erklärte, dass sein Sprössling bei der Stalinistin, die einmal eine angesehene Lehrerin gewesen sei, seit kurzem Nachhilfe in Physik nähme, was bereits Früchte trüge. »Franzose! Wir sehen uns am Sonntag – in der Kirche und bei Olcia«, sagte er grinsend zum Abschied.
Barteks Opa hatte die ganze Zeit geschwiegen, er war auch dann stumm geblieben, als er mit seinem Enkel die Wohnung von Pani Natalia betreten und im Wohnzimmer Stasia und Quecksilber erblickt hatte. Natalias Mutter war bei ihnen, sie bewirtete die Gäste mit Tee und Marmorkuchen, den Quecksilber liebte, und auf dieses überraschende Zusammentreffen war nicht einmal das Schusterkind gefasst.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du eine Tochter hast?«, fragte Stasia, nachdem der Franzose und Bartek am runden Tisch mit der herabhängenden Kugellampe, dem künstlichen Mond Natalias, Platz genommen hatten.
»Ich dachte, ihr wüsstet es schon. Ihr wisst doch sonst immer alles«, entgegnete der Franzose.
Stasia sagte: »Frau Natalia hat sich bereiterklärt, deine Tochter bei sich aufzunehmen. Ich bin selbstverständlich dagegen: Immerhin sprechen wir hier von meiner Halbschwester … Sie muss bei uns leben: bei mir und bei Olcia.«
»Du träumst …«, sagte der Franzose. »Kennst du deine Mutter nicht?«
Natalia Kwiatkowska trank einen Schluck Tee und bat um Ruhe: »Franzose − du magst es mir verzeihen, dass ich dieses Treffen veranlasst habe. Aber ich bin die einzige Person in der Stadt, die euch helfen kann. Joanna wird bei mir wohnen. Das ist beschlossen! Ihr werdet sie sonst verderben!«
Bartek war derweil mit anderen Dingen beschäftigt. In dem botanischen Garten, den Natalia Kwiatkowska in mühseliger Arbeit auf wenigen Quadratmetern geschaffen hatte und an dem sich das Schusterkind nicht satt sehen konnte, gab es nirgendwo eine Uhr oder einen Kalender zu entdecken; niemand wusste, wie spät es in diesem Dschungel war, niemand kannte das aktuelle Datum − jedes Jahr, jede Epoche kam als eine Zeitangabe in Frage, und man fragte sich, ob Natalias Mutter wirklich noch zu den Lebenden gezählt werden konnte. Jadwiga ähnelte vielmehr den Kakteen, die auf den Fensterbänken wucherten und selbst die kühnen Agaven und Palmen bedrohten. Und wenn die Unsterblichkeit wirklich existierte, in welchem Jenseitsquadranten auch immer, so war sie hier überall zu spüren: als fremde, außerirdische Formlosigkeit. Darin war Jadwiga vollkommen aufgegangen, in der Welt des künstlichen Urwalds ihrer Tochter, der Stalinistin, hatte sie sich auf ewig verkrochen.
Barteks Mutter musste Quecksilber, der noch leicht fieberte, ins Bett bringen. Er hatte einen Wollpullover an und schwitzte nicht einmal. »Wir reden am Sonntag weiter«, drohte sie dem Franzosen, ohne zu ahnen, dass sie ihres Mannes Worte zitiert hatte. An ihrem Glas, aus dem sie Tee getrunken hatte, schillerte der Abdruck ihrer rosa geschminkten Lippen.
Pewex und Natalia Kwiatkowskas Rede über den Neuen Menschen
Nachdem Barteks Mutter zusammen mit Quecksilber weggegangen war, trat im botanischen Garten Natalia Kwiatkowskas eine Stille ein, die so kalt war, dass das Schusterkind der Täuschung erlag, jemand hätte die Balkontür sperrangelweit geöffnet, und es würde ins Wohnzimmer hereinschneien. Bartek wurde von diesem Wetterumschwung geweckt, die Ermattung aus der Bücherei war endgültig von ihm gewichen, und er bekam Lust auf eine Zigarette und ein Bier; außerdem hatte er Hunger. Er stopfte den zuckersüßen, von der Jadwiga
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