Der Lippenstift meiner Mutter
falsch von mir, vor euch zu fliehen? Eine zweite Familie zu gründen? Was denkst du?«
Bartek reagierte nicht, da er sich mit seiner Geliebten Meryl unterhielt.
»Wusstest du schon, dass Dolina Ró ż «, meinte Meryl, »ein intelligentes umtriebiges Lebewesen ist und sogar unsere Sprache beherrscht?«
»Was?«, staunte Bartek. »Meine Stadt? Sie gleicht uns Menschen?«
»Nein – eher einem Chor. Sie ist wie das Stimmengewirr eines Kartoffelrosenbuschs!«
»Warum kann ich dann diesen Chor nicht singen hören?«, fragte das Schusterkind. »Meryl – ich bin dir für alles, was du für mich tust und was du mir sagst, dankbar. Aber irgendwann werde ich dich verlassen müssen. Du hast einen besseren Liebhaber als mich verdient. Ich habe dich zwar erschaffen, doch meine Schöpfung ist primitiv. Mein Herz weint, wenn ich dich angucke … Heute fehlen dir die Beine und Hände, dein Mund ist schief … Deine Augen blinzeln schmerzvoll … Und manchmal hast du zwei Nasen und vier Ohren, wenn ich mich mal wieder nicht entscheiden kann, wie du aussehen sollst – wie eine Diva oder wie die Geliebte des französischen Leutnants. Oder vielleicht wie eine Dorfpomeranze?«
»Sei nicht traurig, mein Liebster! Andere Kreaturen sind noch hässlicher. Soll ich dir zeigen, wen dein Opa Franzose liebt? Schau genau hin!«
Bartek blieb abrupt stehen. Was er zu sehen bekam, war ungeheuerlich: Der Franzose liebte nur sich selbst – er liebte seinen Doppelgänger, der aber so missraten und deformiert war, dass er ohne fremde Hilfe gar nicht überleben, keinen einzigen Schritt allein machen konnte. Monte Cassino hätte seine Freude gehabt: Dagegen war er ein Hochleistungssportler. Die Eisenbahneruniform, das Hemd und die Krawatte dieses zwielichtigen Wesens schienen zwar fabrikneu zu sein, aber sein Körper, obzwar festlich gekleidet, bestand aus zusammengeschraubten, auf einem Schrottplatz gefundenen Gliedmaßen. Der Kopf hing schlaf zur Seite wie bei einer Marionette, und den Brustkorb hatte man mit einer Metallplatte verschlossen und verschraubt – das Herz schrie um Hilfe und Luft.
»Meryl, du hast mir die Augen geöffnet! Ich danke dir! Du musst jetzt aber gehen. Der Franzose will mit mir reden!«
Das Schusterkind ging weiter und sagte im nächsten Moment zu seinem Opa: »Du liebst nur dich! Das ist die Wahrheit! Du liebst den gebrochenen, in die Jahre gekommenen Mann in dir! Dein Herz ist aus Eisen, du Eisenbahner!«
»Und du bist manchmal so gedankenverloren, dass man dich normalerweise an den Schultern packen und ordentlich durchschütteln müsste«, meinte der Franzose, der sich bei seinem Enkel einhakte und ihn anschließend zur Eile anhielt. »Ich schmiede neue Pläne: Ich habe beschlossen, in Dolina Ró ż zu bleiben«, fuhr er fort. »Das Haus meiner verstorbenen Geliebten ist so heruntergekommen, dass es sich nicht lohnt, diese Ruine zu renovieren. Und ich möchte meine Reisen ein wenig reduzieren – ich bin alt geworden. Ich wünsche mir nichts weiter als Ruhe. Meine Eisenbahneruniform erdrückt mich! Sie ist mir so schwer geworden! Ich ersticke in meinem Anzug!«
Das Schusterkind nahm die Bekenntnisse und holden Pläne seines Opas gar nicht ernst. Solche Beschlüsse fasste der Franzose nach jeder Rückkehr. Er trank keinen Wodka, doch er hatte die Seele eines Säufers, den Willen eines durch Alkohol zermürbten Mannes. Dieser Wille war auf die Größe eines Kirschkerns zusammengeschrumpft.
»Wer’s glaubt, wird selig«, sagte das Schusterkind. »Du wirst nichts mehr ändern, und ich will auch nicht, dass du etwas änderst!«
»Du bist, Bartek, ein strenger Richter, wie meine Töchter! Mit der Zeit wird dir deine Überheblichkeit vergehen.«
Vor dem Eingang des orangefarbenen Wohnblocks trafen sie zufällig Krzysiek, er war aber nicht allein. Einmal im Jahr kam es vor, dass Barteks Vater den Pfarrer J ę drusik zu sich nach Hause einlud, um mit ihm Schach zu spielen. Die Einladung zum Schachspiel war bloß ein Vorwand, in Wahrheit wollte Krzysiek dem Pfarrer beweisen, dass er sich von niemandem, nicht einmal von der Kirche, einschüchtern lassen würde. Krzysiek bombardierte den jungen Pfarrer mit Fragen, unterbrach ihn ständig, hörte ihm nicht zu, verfing sich in Widersprüchen und stellte abstruse Theorien auf. Die Bibel sei von Menschenhand geschrieben worden, nicht von einem Gott namens Jahwe oder Jesus Christus, und ein Priester dürfe gar nicht in Gottes Namen predigen, ein Pfaffe sei doch genauso
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