Der Lippenstift meiner Mutter
zur Aufbewahrung weggelegt, und die Spinnen und eingelegten Gurken sowie Kirschkompotte waren vor Freude über die gebildeten Nachbarn ganz außer sich geraten. Die eingemachten Sachen schmeckten noch besser, musste Olcia eingestehen, wenn sie die Weckgläser für ihre Töchter, Schwiegersöhne und Enkel öffnete und die Köstlichkeiten probierte. Sie hätte dennoch am liebsten die Bücher ihres Franzosen in ihrem Kachelofen verbrannt. Doch ihre katholische Seele erlaubte ihr keinen solch bestialischen Mord. Sie sagte lediglich: »Möge Frankreich, die Heimat meines Mannes, untergehen und von Europas Karte einst für ewig verschwinden! Die Bücher sind die gefährlichste Waffe des Teufels! Pfui! Sie verdrehen selbst einem intelligenten Mann den Kopf und machen ihn zum Diener der Hölle, die erfinderischer sein will als unser Gottvater!«
Ihr Mann lag also den ganzen Vormittag schon auf dem Sofa und las ein Buch, als wäre er gar nicht für fünf lange Jahre weg gewesen, ja, als wäre er überhaupt nie von zu Hause geflohen; zwischendurch warf er einen Blick auf den Fernseher, der ihn beim Lesen nicht störte. Der Franzose hatte die Zeit außer Gefecht gesetzt, und in einer anderen Epoche, in einer fernen Zukunft, würde er fremden Besuchern und Zeitreisenden mit Bestimmtheit exotisch erscheinen: hier auf dem Sofa mit dem Buch in den Händen und in der Ecke der laufende Fernseher, als wäre er gar nicht dazu fähig, Frau und Kinder aufzugeben und vor ihnen zu fliehen. Vielleicht war er auch tatsächlich nie aus Rosenthal geflohen. Es gab scheinbar solche Universen und Wirklichkeiten, in denen sich nie etwas änderte. Opa Franzose stand am pkp -Fahrkartenschalter und zeigte seinen Eisenbahnerausweis und fragte nach der nächstbesten Zugverbindung in den Süden, nach Krakau oder Tschenstochau zum Beispiel – das tat er jeden Tag, an dem er wieder einmal seine Flucht von Dolina Ró ż und seiner Familie beschlossen hatte. Alles geschah in einer eingefrorenen Zeit, in einer Endlosschleife. Der König von Sparta, Leonidas I., kämpfte immer noch in der Schlucht bei den Thermopylen, und sein aussichtsloser Kampf würde nie enden. Herr Lupicki saß in der Totenkammer seiner Werkstatt und wischte sich die tränenfeuchten Augen mit einem Stofftaschentuch. Er würde nie aufhören, daran zu denken, dass seine Kunden in ihrer Unzuverlässigkeit genauso geheimnisvoll waren wie die mit den Schuhen prallgefüllte Totenkammer. Nutzlose beziehungsweise vergessene Schuhe durfte es, dachte Herr Lupicki, gar nicht geben. Genauso würde Oma Olcia nie aufhören, jeden Freitag zum Wochenmarkt zu gehen.
Barteks Oma war nicht davon begeistert, dass ihr Enkel einen Gast zum Mittagessen mitgebracht hatte. Sie mochte den Buckligen Norbert nicht. Nur Gottvater könne wissen, meinte sie, warum Herrn Lupickis Sohn so hart bestraft worden sei – mit Dummheit, für die Norbert nicht einmal zur Verantwortung gezogen werden dürfe. Allerdings sagte sie auch, dass vielleicht die Ursache für diese schwere Krankheit, denn für sie war es eine Krankheit, an der Norbert litt, ganz woanders gesucht werden müsse. Herr Lupicki sei jüdischer Herkunft, ein Chassid aus der Ukraine. Sie erklärte deshalb ihrem Enkel, als sie ihm den Teller mit Gurkensuppe fast bis an den Rand gefüllt hatte, Herr Lupicki habe diese Strafe vielleicht verdient. Schließlich habe es lange gedauert, bis der alte Schuster umsichtig geworden sei und Jesu Christi Botschaft angenommen habe. Der Franzose stellte seine Frau für ihre ihm allzu oft geradlinigen und leicht durchschaubaren Ansichten gewöhnlich an den Pranger, und so geschah es auch diesmal. »Ihr neutestamentlichen Gläubigen und eure Kleriker und Häresiarchen – ihr seid alle Antisemiten! Ja, das seid ihr schon immer gewesen! Weil ihr die Schöpfung als euer Eigentum betrachtet!«, schrie er Olcia beim Mittagessen an. »Weil ihr aus euren heidnischen Götzen Schöpfer der Welt gemacht habt, was euch allerdings gar nicht klar ist!«
Norbert, der mit am Küchentisch sitzen durfte und von Olcia nicht an den schäbigen Arbeitsplatz der Vitrine aus den Fünfzigern vertrieben wurde, senkte den Kopf, als hätte ihm die Schelte des Franzosen gegolten.
»Die Bücher haben dir deinen Verstand gestohlen«, sagte Olcia. »Sie sind schlimmer als der Wodka! Und jetzt beruhige dich endlich. Iss lieber die Gurkensuppe, solange sie heiß ist, und ich schneide dir noch eine Scheibe Brot dazu!«
Olcias größte Sorge war, dass die
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