Der Lippenstift meiner Mutter
Gurkensuppe kalt werden würde. Sie ignorierte gänzlich die Tiraden des Franzosen. Sie sagte zu Norbert: »Du bist ein Hungerleider – sollst aber mein gütiges Herz kennen lernen! Greif tüchtig zu, Junge, und iss dich satt! Freitags gibt’s zwar bei mir kein Fleisch, aber dafür zwei Gänge! Greif tüchtig zu!«
Barteks Großeltern setzten ihren Streit fort, und er hatte Mühe, ihnen zu erklären, dass er bloß auf dem Sprung sei und gleich in die Stadtbibliothek gehen wolle, um den Aufsatz über Natalia Kwiatkowskas Gedichte zu schreiben.
Der Franzose verstummte plötzlich, die Glocken seiner eifrigen Tiraden gegen die Engstirnigkeit läuteten aber immer noch in Barteks Kopf. Opa Franzose schlürfte die Gurkensuppe und stierte den Buckligen Norbert an, dem niemand beigebracht hatte, wie man eine Suppe essen musste: Sein Hemd war nass, geschnippelte Gurkenstreifen klebten an seinem Hals und Hemd, und er leckte nach jedem Schluck den Löffel lautstark und schmatzend ab.
Der Franzose sagte schließlich: »Der Bucklige hat mir heute Morgen eine Nachricht von Natalia Kwiatkowska überbracht. Gegen Abend werde ich zu ihr gehen, und du kommst mit – Bartek. Wir treffen uns vorher in der Schusterwerkstatt!«
Das Schusterkind nickte bestätigend und aß in Windeseile die Piroggen mit Käse und Zwiebeln, den zweiten Gang, auf und machte sich dann auf den Weg. Es konnte am Broadway endlich durchatmen und zu seiner alten, ihm eigenen Ordnung der Dinge zurückfinden: Bartek genoss es, allein zu sein. Jetzt würde er nur noch dafür beten, der winterliche Himmel möge endlich seine Pforten öffnen, die Wolken vertreiben und über dem Lunatal erleuchten – Bartek vermisste die Sterne und ihre für ihn aberwitzig erscheinenden Konstellationen und Figuren, die angeblich in jedem Land der Erde bekannt waren; das Schusterkind dachte sich seine eigenen Sternbilder aus.
Der Schnee hatte den Himmel besiegt und in seinem trübsinnigen Kerker eingeschlossen. Ja, es schneite wieder. Und die Rückkehr der Sonne und der glasklaren Nächte mit den Sternen zog sich in die Länge, Woche für Woche. Es musste noch kälter werden, dann würde man bei hohen Minustemperaturen endlich den nackten Himmel beobachten können, mit seinen Ungeheuern und Jungfrauen, Liebhabern und Räubern. In solchen Nächten verwandelte sich Dolina Ró ż in ein Planetarium. Herr Tschossnek und Opa Franzose spielten Schach, Monte Cassino und Herr Lupicki reparierten die Schuhe ihrer undankbaren Kunden, Mariola zog ihren Rock aus und spreizte die Beine für die Piepmaus eines neuen Geliebten, der deutsche Spion aus Amerika schaute aus dem kleinen Fenster seiner Gefängniszelle nach draußen in die eingebüßte Freiheit – und all das spielte sich am nächtlichen Firmament ab, hier über dem Lunatal.
In der Stadtbibliothek waren die für den Leihbestand zuständigen Damen Bartek gegenüber zuvorkommend und freundlich; sie kannten schließlich seine Mutter, die sie für ihre pädagogische Arbeit schätzten. Sie halfen ihm bei der Suche nach Natalia Kwiatkowskas Gedichten. Er setzte sich an einen stillen Tisch im Lesesaal und ließ sich die Zeitschriften und Bändchen mit dem verbotenen Werk der Stalinistin bringen. Diese pompösen Früchte durfte man normalerweise nicht so einfach bestellen, man brauchte schon einen speziellen Grund, aber die Damen drückten bei Bartek ein Auge zu. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, er kam sogar auf die Idee, das Schreiben des Aufsatzes seiner Mutter zu überlassen, die es bestimmt gerne tun würde. Aber er fand diesen Einfall albern und seines Intellektes nicht würdig. Und somit, als man ihm die angeforderten Materialien aus einem Magazin brachte, stürzte er sich in die Arbeit.
Er las dann die ersten Zeilen eines Gedichts der einstigen Physiklehrerin und fragte sich, was für einen Lippenstift sie besaß, ob dieser ihr zur Verführung und Besänftigung oder eher zur Beherrschung und gar Tötung der Männer diente − dieses mächtige Instrument der Frauen, mit dem sie komplizierte Operationen an den männlichen Versuchstieren durchführten. Und es waren mehr oder weniger waghalsige Experimente, die angeblich die Entwicklung der Liebe zwischen Frau und Mann vorantreiben sollten – zum Positiven hin. Bartek jedenfalls würde seiner Mutter niemals unterstellen, sie wolle nicht lieben, sondern morden. Seine Mutter war keine Mörderin, obwohl sie töten durfte.
Er wurde bei der Lektüre schläfrig. In der
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