Der Lippenstift meiner Mutter
die Figuren auf: »Schwarz oder weiß?«, überlegte er laut. »Ich wähle immer die Weißen!«
Seine einstige Geliebte gab keinen Mucks mehr von sich. Sie hüllte sich in eine Wolldecke, ließ sich in einen Sessel, der im Schatten der Riesenblätter eines Ficus stand, fallen und beobachtete aus ihrem Versteck die ersten Spielzüge des Franzosen. Nach einer Weile sagte sie: »Stasia wird gleich zurückkommen – sobald der Kleine eingeschlafen ist … Wir werden auf sie warten. Ich will eine Rede halten, und sie muss dabei sein.« Wenig später trat genau das ein, was die Stalinistin eben vorhergesagt hatte. Barteks Mutter kam tatsächlich zurück und setzte sich, erwartungsvoll schweigend, zu ihrem Vater an den Tisch, der aber die denkwürdige Schachpartie, die ihm Natalia aufgezwungen hatte, nicht unterbrechen wollte. Er tat so, als wäre er hier in Natalias Wohnzimmer allein. »Mit der Königlichen Majestät der Friedhöfe sollte man nicht spaßen!«, sprach er leise mit sich selbst, dann wandte er sich an Bartek: »Du weißt es noch nicht, Junge, was es bedeutet, jeden Morgen Zeuge seines eigenen Begräbnisses zu sein, wenn du mit jedem neuen Sonnenaufgang einen Teil von dir wieder begraben musst − bis zum völligen Verschwinden. Monte Cassino wurden nicht nur seine Beine genommen, und ich, der ich kein Krüppel bin, sitze dennoch in einem Rollstuhl: Er ist bloß unsichtbar für dich.«
»Bartek! Glaub diesem entrückten Geist kein Wort! Er ist krank«, sagte Stasia und blickte die Stalinistin an. »Im Übrigen habe ich meine Meinung geändert: Es wird wohl das Beste für uns alle sein, wenn Joanna zu Ihnen, Frau Natalia, ziehen wird … Meine Schwestern sind genauso wie ich berufstätig – wann sollten wir uns auch noch um diese Göre, die wir nicht einmal kennen, kümmern?«
Der Franzose sagte: »Genau das habe ich an euch schon immer bewundert und gleichzeitig verabscheut: eure Wankelmütigkeit!«
Natalia Kwiatkowska bat erneut um Ruhe und begann dann in ihrem grünen Versteck mit ihrer Rede, wobei das Schusterkind das Gefühl hatte, dass nicht sie diese Rede hielt, sondern der Ficus mit seinen Riesenblättern: »Wie gern wäre ich Barteks Mutter geworden! Wie gern würde ich Krzysiek, diesen hungrigen Kochtopf und bedauernswerten Mitläufer, umgarnen und lieben! Ihr wisst gar nicht, wie glücklich ihr seid! Ihr Naivlinge! Hättet ihr mein Wissen, das ich mir schwer erarbeitet habe − durch das Studium des Marxismus und Leninismus, der Zimmerpflanzen, der Kunst des Glasmachens und der Astronomie, durch die Erforschung des Van-Allen-Gürtels −, würdet ihr sofort Selbstmord begehen: Ihr würdet nämlich euer Antlitz nicht mehr ertragen. Joanna, die Tochter des Franzosen, muss zu mir kommen und bei mir wohnen. Ich werde sie vor eurem kranken Geschlecht retten. Sie wird wie ich ein freier Mensch werden! Ihr seid schwach und feige, nur deshalb ist unsere großartige Revolution gescheitert. Wir wollten einen Neuen Menschen erschaffen, der nur in Gleichheit mit seinen Genossen leben sollte − im Einklang mit den physikalischen Gesetzen des Universums. Wir wollten euch von eurem Sklavendasein befreien, von eurer euch angeborenen Dienermentalität. Aber ihr seid dieser großen Ziele nie würdig gewesen, weil ihr euch vor dem Tod fürchtet, vor allen Dingen aber davor, gleichgestellte Habenichtse zu werden. Dabei – vorausgesetzt, ihr wärt gehorsam mit uns bis ans Ende der Welt marschiert – hätten wir die Habgier gemeinsam ein für allemal abschaffen, den größten Feind eures irdischen Geschlechts besiegen können, denn dieser Feind geht über Leichen, und ihr, die ihr uns vorwerft, wir hätten im Namen der Befreiung von der Sklaverei im Dienste der Geldmänner und ihrer Banknotenverwalter gemordet, ihr selbst seid Mörder, nur dass eure Morde im Stillen, Unsichtbaren oder Getarnten geschehen. Doch noch viel schlimmer ist eure Abhängigkeit von den zahlreichen Göttern, für die die Geldmänner und Banknotenverwalter arbeiten und die über euch Erdlinge in alle Ewigkeit herrschen wollen. Ihr habt euch in die Arme so vieler Götter und Götzen freiwillig oder aufgrund eurer Dummheit unwissentlich begeben, dass niemand zweifeln sollte, was diese angeblichen Schöpfer und Bewahrer der physikalischen Gesetze des Universums wollen. Jeder Gott ist ein Manipulant und ein Illusionist, der die physikalischen Gesetze des Universums und eure Dummheit für seine egomanen Zwecke ausnützt. Er will euch versklaven,
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