Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
Vom Netzwerk:
Charakter oder die Andeutung eines geheimen Vorkommnisses. Er hatte es noch nicht. Hammer sagte oft, wenn das, was man brauchte, nicht in Reichweite auf einem Stück Papier zu finden war, dann war es in jemandes Kopf. Also würde er vielleicht einfach früher als geplant mit Leuten reden müssen. Die Namen, die an der Wand eingekreist waren,
kannten Lock oder Malin und hatten mit ihnen Geschäfte gemacht. Einige von ihnen würden loyal ihnen gegenüber sein, andere nicht, und Webster hätte es vorgezogen, sich erst mit ihnen zu befassen, wenn er sich über seinen Plan und über die Loyalitäten der zu Befragenden im Klaren war. Sei’s drum. Und bis dahin gab es immer noch Alan Knight.

    Die einzigen Anzeichen dafür, dass Alan Knight Engländer war, waren sein Name, seine Aktentasche und sein Akzent, ein sanftes Derbyshire-Schnurren, das, wenn er nervös wurde, zu einem Murmeln herabsank. In allem anderen hatte er sich während der letzten zwanzig Jahre kontinuierlich zum Russen entwickelt. Selbst jetzt, im kaum herbstlichen London, trug er schwere schwarze Schuhe mit Gummisohlen und einen dicken Steppmantel, der weit unterhalb der Knie endete. Darunter befanden sich, wie Webster wusste, ein Blazer, und ein kurzärmeliges Hemd. Seine Hose war mindestens einen Zentimeter zu kurz, mittelgrau und mit militärischer Präzision gebügelt. Er trug eine Brille mit Metallrahmen und hellbraunen Gläsern, und die einzigen Farbtupfer in seinem Gesicht waren die rote Nase und, gerade eben sichtbar, seine graublauen Augen. Er war etwa fünfzig und hatte einen gebückten Gang, gebeugt vom Gewicht der Dinge, die er wusste.
    Knight lebte in Tjumen im östlichen Ural, der Hauptstadt der russischen Ölindustrie, mehr als 1500 Kilometer von Moskau entfernt, am Rand der reichen kahlen Ebene Westsibiriens. Es gab viele Westler in Tjumen, doch sie alle lebten in Wohnanlagen für Ausländer, schickten ihre Kinder auf die amerikanische Schule und verschwanden wieder, so schnell sie konnten. Knight war ein Einheimischer. Er hatte seine
Frau dort kennengelernt, in den letzten Tagen der Sowjetunion. Er hatte sie geheiratet, sobald das möglich wurde, und war geblieben. Seine drei Kinder besuchten alle die russische Schule im Ort. Er ernährte seine Familie, indem er für westliche Zeitungen über Öl schrieb und für Unternehmen wie Ikertu arbeitete.
    Webster hatte keine Ahnung, ob ihn das reich oder arm gemacht hatte, aber Knight war zweifellos wertvoll, er kannte das Geschäft mit Öl und Gas besser als irgendjemand anderes außer den Russen selbst. Wie es kam, dass man ihn so viel wissen ließ, hatte Webster schon immer interessiert: Entweder wurde er von jemandem bezahlt, oder er war einfach zu unwichtig, um wahrgenommen zu werden. Doch Webster kannte ihn seit fünfzehn Jahren, seit seiner eigenen Zeit in Russland, und hatte nie irgendwelche Parteilichkeiten in seinen Informationen bemerkt. Jedenfalls war das in diesem Fall auch ziemlich egal, denn wenn Knight ihm nichts Interessantes berichten konnte, war nichts verloren, und wenn er wusste, dass Ikertu Nachforschungen über Malin anstellte, und es weitererzählte, würde es die Sache nur beschleunigen.
    Knight war seinen Wahl-Landsleuten noch in anderer Hinsicht ähnlich: Er hatte ehrliche Angst vor Macht. Ihm Anweisungen zu übermitteln, war umständlich und teuer. E-Mail-Korrespondenz mit seinem russischen Account über irgendetwas von Belang war verboten. Er kam regelmäßig nach London, und Webster kannte seinen Zeitplan, doch wenn er eine dringliche Aufgabe hatte, musste er ihm eine E-Mail mit der Frage senden, wann er wieder in England sein würde. Dann verließ Knight Tjumen und flog nach Istanbul, wo er von einem türkischen E-Mail-Account seinen eigentlichen
Auftrag abrief, den Webster ihm zeitgleich zugeschickt hatte. Bevor Knight aus Russland herausflog, um seinen Bericht zu erstatten, war jegliche Korrespondenz über den Fall unmöglich, außer wenn Webster ihn zu diesem Zweck nach London einfliegen ließ. Klienten, die diese Regeln missachteten, wurden von Knights Liste gestrichen. Webster und andere akzeptierten dieses Maß an Vorsicht, weil Knight gut war und keine Konkurrenz hatte. Die russische Wirtschaft war legendär undurchsichtig und der Energiesektor ihr dunkles Zentrum. Knight gehörte zu den wenigen, die direkt vom Rand aus dort hineinschauen konnten.
    Diesmal trafen sie sich im Chancery Court Hotel in Holborn. Webster hatte es ausgewählt, weil es anonym und

Weitere Kostenlose Bücher