Der Lockvogel
Chance erkannt und sie ergriffen. Er wusste mehr als alle anderen. Kontrollierte sowieso schon alles. Und er verkaufte dem Kreml eine Vorstellung davon, was Russland sein könnte.« Knight schaute zur Tür und wieder zu Webster zurück, der seinen Tee trank und wartete, dass Knight weitersprach.
»Nochmals: Er ist mächtig. Kein zweitklassiger Weltbürger. Wussten Sie, wie viel Gas Russland besitzt? Ein Fünftel des Gesamtvorrats. An manchen Tagen produziert es mehr Öl als die Saudis. Schauen Sie sich den Anstieg der Produktion an, seit Jelzin weg ist. Das bewirkt nicht die Dynamik des Privatsektors, sondern Druck aus dem Kreml. Und Ihr Freund sitzt an der Schaltstelle. Er ist im Kreml, um die Politik mitzubestimmen, und im Ministerium, um sie dann in die Tat umzusetzen.«
Knight legte seinen Löffel hin und schaute Webster zum ersten Mal gerade in die Augen.
»Und warum ist er so Furcht einflößend?«, fragte Webster und erwiderte seinen Blick.
»Wegen dem, was er vorhat.«
»Und das wäre?«
»Jeden Winter dreht Russland der Ukraine die Pipelines zu, stimmt’s? Die Presse überschlägt sich, die Ukraine macht eine Menge Lärm, in den Verhandlungen selbst geschieht
wenig, und dann wird das Ventil wieder geöffnet. Dabei geht es nicht darum, wie viel die Ukraine für ihr Gas bezahlt. Es geht um Russland, das die Welt daran erinnert, dass es da ist und dass man ihm nicht vertrauen kann. Alles kann passieren. Vielleicht hören die Russen ganz auf, Europa zu beliefern. Im letzten Winter haben die Rumänen gefroren, das nächste Mal sind es vielleicht die Deutschen.«
»Okay. Was hat Malin also im Sinn?«
»Sind Sie sicher, dass Sie das wissen wollen?«
»Ganz sicher.«
»Es wird Ihrem Fall nicht helfen.«
»Alan, sagen Sie’s mir einfach. Ich brauche etwas. Wenn ich es nicht verwenden kann, haben Sie nichts zu befürchten.«
»Okay«, sagte Knight und sah so aus, als sei er endlich bereit anzufangen, rief aber dann doch zuerst die Kellnerin herbei, um weiteren Tee zu bestellen. »Wollen Sie etwas?«
»Nein, danke.«
Als die Kellnerin wieder am anderen Ende des Raumes war, redete er weiter. »Okay. Er will Russland noch mächtiger machen. Das ist es, wozu Faringdon da ist. Ihre Freundin hatte recht.«
»Welche Freundin?«
»Das Mädchen. Die Journalistin. In ihrem Artikel.«
»Inessa?«
»Ja.«
»Welcher Artikel? Sie hat nie darüber geschrieben.« Er war verunsichert und verärgert bei dem Gedanken, dass Knight etwas über Inessa wusste, das ihm selbst verborgen geblieben war. Immer noch versetzte ihm jede Erwähnung von ihr einen scharfen Stich durcheinanderlaufender Emotionen:
den Drang, ihr Andenken zu schützen, das schmerzhafte Bedürfnis, zu erfahren, wer sie getötet hatte, und die schreckliche latente Angst, inzwischen fast zur Gewissheit geworden, dass er es nie sicher wissen würde. Durch all diese Gefühle zog sich wie ein roter Faden die Beschämung, dass er nicht genug unternommen hatte, es herauszufinden. Er hatte das seit langer Zeit nicht mehr verspürt, aber hier war es wieder: vertraut und frisch zugleich.
»Sie war die Einzige, die darüber geschrieben hat. Ist schon Jahre her.« Er sah Webster einen Moment lang an, ehrlich erstaunt. »Und Sie haben es nicht gelesen?«
Webster schüttelte den Kopf. Er kannte Inessas gesamte Arbeit. In den Monaten nach ihrem Tod hatte er alle ihre Artikel gelesen, sie auseinandergenommen, nach Themen sortiert, hinter jedem Wort nach irgendeiner Art von Gewissheit geforscht. Hatte er etwas übersehen? Oder hatten zwanzig Jahre Arbeit in einem Umfeld von Öl und Verschwörungstheorien dafür gesorgt, dass Alan langsam anfing, sich Dinge einzubilden?
»In Energy East Europe . Muss im Sommer ’99 gewesen sein«, sagte Knight.
»Nein.« Und außerdem: Wie kam es, dass seine Rechercheure das übersehen hatten?
»Lesen Sie es halt. Es war nicht viel, aber in meiner Welt hat es ziemliche Wellen geschlagen.«
Webster nickte. Er hasste es, sich dumm vorzukommen, und ganz besonders hasste er es, nicht vorbereitet zu sein. »Das werde ich.«
»Ich wollte nicht an alte Wunden rühren.«
»Ist schon okay.« Er öffnete den Verschluss seiner Armbanduhr, zog sie vom Arm und begann sie aufzuziehen.
»Das werde ich.« Er schaute hoch zu Knight. »Erzählen Sie mir von Faringdon.«
Der ungläubige Blick hatte Knights Gesicht noch nicht völlig verlassen, doch er änderte bewusst den Tonfall und begann. »Es ist ein Vehikel. Es kauft Dinge. Schauen Sie
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