Der Lockvogel
einer russischen Delegation, zu der der damalige Minister für Industrie und Energie gehörte, an Gesprächen in Budapest teilgenommen; im darauffolgenden Jahr war er als Mitglied einer ähnlichen Gruppe in Almaty gewesen. Laut einem ukrainischen Blog zählte er zu den Kreml-Insidern, die die Entscheidung der Russen, im Jahr 2006 die Gaslieferungen an die Ukraine zu blockieren, beeinflusst hatten. Später im gleichen Jahr hatte er den Verdienstorden des Staates erhalten für »hohe Verdienste in der wirtschaftlichen Produktion und für die Förderung der wahren Werte von Russlands ökonomischen Ressourcen.« Echter Fünfjahresplan-Jargon, hatte Webster gedacht, doch die russische Presse hatte kaum Interesse gezeigt. Webster war davon ausgegangen, irgendwelchen Schmutz zu finden, weil jeder wichtige Mensch irgendwo Dreck am Stecken hatte. Wenn man mächtig genug war, hatte man Feinde, und diese Feinde schrieben schlechte Dinge über einen – oder erfanden notfalls welche. In Russland nannte man das Kompromat , kompromittierendes Material. Doch es gab kein Kompromat über Malin – schwer zu glauben, dass jemand, der so korrupt war, so makellos erscheinen konnte –, und ohne wusste man kaum, wo man anfangen sollte.
Auch über Lock fand er wenig Interessantes. Sein Name stand auf ein paar Tausend Unternehmensdokumenten und
in zahllosen Zeitungsartikeln, aber nichts davon war aufschlussreich. Jedes Mal, wenn Faringdon etwas kaufte oder verkaufte oder eine Kooperation ins Leben rief, tauchte er als Sprecher für das Unternehmen auf und lieferte ein Zitat – immer uninteressant, immer der abgesegneten Pressemitteilung entnommen. Websters Rechercheur hatte zwei Fotos im Moskauer Klatschmagazin Profil gefunden, die Lock zusammen mit unglaublich glamourösen jungen Frauen auf Partys zeigten. Webster war froh, zumindest zu wissen, wie er aussah: aschblond, breites Gesicht, die dünnen Lippen verschwanden fast vollkommen und erinnerten an jemanden, der der Welt zu oft »Nein« gesagt hatte. Seine Haut war um die Wangenknochen herum leicht pockennarbig, aber seine Augen waren blau und klar. Weniger verlebt hätte man sein Gesicht als attraktiv bezeichnet. Auf beiden Bildern lächelte er und trug eine einstudierte Unbekümmertheit zur Schau, und auf beiden trug er gut geschnittene Anzüge, die irgendwie zu seinem lässigen Gesichtsausdruck im Widerspruch standen und inmitten des Moskauer Glitters fehl am Platz schienen.
Das war alles, was Webster derzeit über Locks Leben wusste. Er wusste auch ein wenig über das Leben, das er vor Russland geführt hatte, doch die beiden Enden waren nur schwer miteinander in Verbindung zu bringen. Er war 1960 in Den Haag geboren. Seine Eltern waren Holländer, aber Ende der 60er Jahre nach London gezogen, als sein Vater von der Royal Dutch Shell dorthin versetzt worden war. In Großbritannien hatte Lock eine normale Mittelklasse-Bildung genossen – Internat, Geschichtsstudium an der Nottingham University, Jura-Aufbaustudium in Keele – und nach dem Abschluss in einer angesehenen, wenn auch nicht
prominenten Londoner Anwaltskanzlei namens Witney & Parks angefangen, die auf Handels- und Versandrecht spezialisiert war. Er hatte eine Schwester, die Webster jedoch noch nicht ausfindig gemacht hatte. In seinem letzten Schuljahr waren seine Eltern zurück nach Holland gezogen, aber er war in England geblieben. 2002 starb seine Mutter im gleichen Krankenhaus, in dem Lock geboren worden war; sein Vater lebte seitdem in dem Küstenstädtchen Noordwijk.
Ansonsten gab es nichts: kein Profil in den Zeitungen, keinen öffentlichen Zank mit Konkurrenten, keinerlei Skandale. Niemand hatte sich bisher die Zeit genommen, diesen Mann interessant zu finden – zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Bei Gratschow war es noch schlimmer, eine komplette Nicht-Existenz; und auch wenn die Unternehmen sich reger verhielten, geschah nichts, was Websters Instinkte weckte. Seine Rechercheure hatten ihm die Geschichte von Faringdon und Langland aufbereitet, aber in beiden Fällen war das lediglich eine Liste von Transaktionen: hoffnungslos trocken an der Oberfläche und darunter undurchdringlich. Er stellte sich vor, dieses wenige an Tourna zu berichten, und erkannte, wie viel sie sich mit diesem Fall eigentlich vorgenommen hatten.
Er hatte noch keine Story, obwohl er wusste, dass die Story entscheidend war. Was er zu entdecken hoffte, war ein Weg, die ersten Meter eines Pfades: sei es ein Hinweis auf einen
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