Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
dumm sein, etwas wirklich Wichtiges in Schubladen zu verstauen, die man mit ganz normalem Werkzeug zu öffnen vermochte? Ich ging wieder zu der Kommode und rückte sie von der Wand, drehte sie ein Stück, sodass ich auch die Rückseite sehen konnte. Dann zog ich die beiden unverschlossenen Schubladen ganz heraus, damit die Kommode leichter wurde. Ich rüttelte an ihr, um zu hören, welche Geräusche der Inhalt machte, und um zu spüren, wie er sich bewegte. In der unteren Lade lag ein kleiner Gegenstand, der mit metallischem Klang gegen das Holz stieß. Für eine Feuerwaffe schien er mir nicht schwer genug, eher hörte er sich nach einem Messer an. Aus der oberen Lade war nur ein schabendes Geräusch zu hören. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Ich untersuchte die Rückseite der Kommode. Mein verstorbener Onkel Jari, bei dem ich von meinem vierten Lebensjahr bis zum Abitur gelebt hatte, war von Beruf Zimmermann gewesen und hatte auch selbst Möbel gebaut. Er hatte mir beigebracht, mit Tischlerwerkzeug umzugehen. Der Fugenstreifen an der Rückwand der Kommode war gut gearbeitet, mit den Jahren jedoch ein wenig brüchig geworden. Würde ich die Fuge mit einem flachen Messer öffnen können, sodass ich an den Inhalt herankam? Wahrscheinlich. Möglicherweise würde es mir auch gelingen, die Teile anschließend mit Holzleim zu verbinden, aber das Ergebnis würde wohl kaum so perfekt ausfallen, dass mein Eingriff unentdeckt bliebe. Aber immer noch besser, als die Kommode mit der Axt zu zerschlagen.
Ich suchte im Haus vergeblich nach einem passenden Messer. Also blieb mir nur das kleine Dolchmesser, das ich immer bei mir hatte. Ich versuchte es damit, doch die Klinge war zu kurz und am oberen Ende zu dick. Eine dünne Feile wäre das Beste gewesen. Der kleine Werkzeugkasten in meinem Mietwagen enthielt nur einen Schraubenzieher und einen Wagenheber. Das nächste Eisenwarengeschäft war vermutlich in Roccastrada, und ich hatte keine Ahnung von den hiesigen Öffnungszeiten. Ich fummelte noch eine Weile lang mit meinem Dolchmesser herum, bis ich plötzlich merkte, wie hungrig ich war. Es war mittlerweile fünf Uhr am Nachmittag, und ich hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Im Kühlschrank lagen nur eine Tomate, ein Stück Käse und ein paar Apfelsinen. Wegen des geplanten Ausflugs nach Siena hatten wir die Vorräte nicht aufgestockt. Ich aß zwei Apfelsinen und stellte mich dann unter die Dusche. Mit dem Auto konnte ich das Trüffelrestaurant in einer halben Stunde erreichen. Vielleicht würde ich dort erfahren, mit wem David gespeist hatte.
Ich zog eine schwarze Jeans, eine schwarz-grau gestreifte Tunika und Tennisschuhe an. Außer Mascara legte ich keine Schminke auf. Ich wollte den Eindruck erwecken, ich hätte keine Zeit gehabt, mich großartig zurechtzumachen. Im Restaurant würde ich eine Frau spielen, die an ihrer Attraktivität zweifelt, denn ich stellte mir vor, dass gerade solche Frauen verzweifelt einer Urlaubsbekanntschaft nachspüren würden.
Der Wohnungsschlüssel steckte von innen. Ich zog dem blauen Löwen auf der Tür eine Grimasse, als ich abschloss. Dieser Schlüssel passte jedenfalls nicht auf die Kommode. Wenn ich ihn mitnahm, kam David nicht ins Haus, denn es gab nur ein Exemplar. Am Hang blühten Schwertlilien, das Laub der Apfelbäume raschelte, und in der Festung gurrten Tauben. Sie schienen mich zu verspotten.
Die Straße von Montemassi nach Paganico schlängelte sich den steilen Hügel hinab in die Ebene, ich fuhr mit Motorbremsung. Die Blätter an den Bäumen hatten ihre volle Größe noch nicht erreicht, ihre Farbskala reichte von zartem zu tiefem Grün. Die Weinstöcke an den Hügeln brachten neue Triebe hervor, und an sonnigen Stellen blühten die ersten Rosen. Ich überquerte den kleinen Fluss auf einer Brücke, die so niedrig war, dass man sich bei Hochwasser in Acht nehmen musste, wich bald darauf zwei Hühnern und dann einer trächtigen Hündin aus, die gemächlich über die Straße dackelte. In jedem Haus gab es Tiere, mindestens einen Hund und zwei Katzen sowie Hühner und einen Hahn, damit man täglich frische Eier hatte. Onkel Jari hatte auch einmal drei Hühner und einen Hahn angeschafft, aber unser Hühnerstall war offenbar schlecht gebaut. Zuerst verschwand ein Huhn, dann der Hahn. Unser Nachbar Matti Hakkarainen wusste zu berichten, dass ein Fuchs die Gegend unsicher machte. Ohne Hahn hörten die verbliebenen Hühner bald auf, Eier zu legen, und schließlich wurden
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