Der Maedchenmaler
saßen wir hier herum und hofften und warteten. Wir redeten nicht viel, tranken Unmengen von Kaffee und zerbrachen uns den Kopf. Mein Blick begegnete dem von Merle und sie schaute wie ertappt woandershin. Jede von uns dachte an damals, als Caro nicht nach Hause gekommen war. Aber wir sprachen es nicht aus. Bitte nicht, betete ich im Stillen. Bitte, lieber Gott, lass nicht zu, dass wir das ein zweites Mal durchmachen müssen.
Merle stand auf, verließ die Küche und kam kurz darauf mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen zurück. »Ich hab sie damals aufgehoben«, sagte sie und legte eine mir wohl bekannte Visitenkarte auf den Tisch. »Für alle Fälle.«
Warum nicht? Der Kommissar würde unsere Befürchtungen ernster nehmen als irgendein Polizist auf irgendeiner Wache. Ich holte das Telefon. Mike drehte die Karte zwischen den Fingern. Er war mit den Gedanken längst wieder woanders.
Zuerst spürte Ilka die Kopfschmerzen, die ihren Schädel umspannten wie ein zu enger Helm. Sie stöhnte und fasste sich an die Schläfen. Erst dann kam dunkel die Erinnerung. Sie öffnete die Augen und fuhr hoch.
Der Schmerz ließ sie leise aufschreien. Sie merkte jetzt auch, dass ihr übel war. Aber vor allem hatte sie Angst. Sie kauerte sich an die Wand. Was genau war geschehen?
Sie war aus Laras Haus gelaufen. Ein Wagen hatte angehalten. Ein Mann war ausgestiegen.
Ruben!
Er hatte sie in den Wagen gezerrt und ihr irgendwas eingeflößt. Es hatte eklig geschmeckt. Sie hatte den bitteren Geschmack noch immer im Mund. Von da an wusste sie nichts mehr. Sie wusste nicht, wie sie hierher gekommen war, und sie wusste nicht, wo sie sich befand.
Langsam ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Ein Bett (in dem sie saß), ein Schrank mit milchigen Glasscheiben, ein altmodischer, kleiner Sekretär, wie ihre Mutter ihn früher besessen hatte, ein mit blauem Stoff bezogener Sessel, über dessen Rückenlehne ein weißer Bademantel lag, bereit zum Hineinschlüpfen.
Entsetzt sah Ilka an sich hinunter und stieß erleichtert den Atem aus. Sie trug noch ihre Sachen. Ruben hatte sie offenbar nur aufs Bett gelegt und mit einer Wolldecke zugedeckt. Sie horchte. Es war so still, dass sie ihr Blut in den Ohren rauschen hörte. Sie merkte, wie ihr die Tränen kamen.
»Lieber Gott«, flüsterte sie, »lass das ein Traum sein!«
Bevor die Panik sie überwältigen konnte, nahm sie die Erforschung ihrer Umgebung wieder auf. Zwei kleine Fenster ziemlich weit oben in dem hohen Raum, abgesichert mit Eisengittern in Form von Blumenranken. Helle Rollläden, geschlossen. Auf dem Boden ein flauschiger Teppich in Rostrot und Blau. An den Wänden abstrakte Bilder. Eine moderne Lampe auf dem Sekretär, die das Zimmer in ein freundliches Licht tauchte.
Alles wirkte harmlos und normal, nur war es alles andere als das. Ilkas Gedanken rasten. Was hatte Ruben vor? Wozu hatte er sie hierher gebracht? Wirklich nur, um mit ihr zu reden? Um sie zu zwingen, ihm zuzuhören?
Sie sitzen in ihrem Versteck. Der Herbstwind pfeift ums Haus und heult im Kamin. Regen prasselt auf das Dach. Es ist kalt. Ilka hat ihre dicke Daunenjacke angezogen, obwohl die eigentlich für den Winter ist.
Ruben scheint nicht zu frieren. Er friert nie. Ein bisschen bewundert Ilka ihn dafür. Er rasiert sich schon. Bestimmt würde er sie retten, wenn es ein Unglück gäbe. Und hinterher nicht drüber reden. Wie die Helden im Film.
Er klappt das Taschenmesser auf. Die Klinge glänzt wie Silber. Er fährt mit dem Daumen an der Schneide entlang. »Willst du für alle Ewigkeit mit mir zusammen sein?«
Ilka erschrickt. An ein Leben ohne Ruben darf sie gar nicht denken. Sie reißt die Augen auf. Nicht weinen! Ruben mag es nicht, wenn sie weint. Er sagt, es macht sie hässlich und dumm.
Für alle Ewigkeit. Sie nickt.
»Dann müssen wir Blutsbrüder werden.«
»Wie denn? Wo ich doch deine Schwester bin.« Sie kann kein Blut sehen, ohne dass ihr schlecht wird. Sie hat Angst vor Rubens Entschlossenheit. Wenn diese steile Falte zwischen seinen Augenbrauen steht, muss man vorsichtig sein. Dann kann er beim geringsten Anlass explodieren.
»Das sagt man so. Es geht auch zwischen Bruder und Schwester.«
Bruder und Schwester. Hänsel und Gretel. Eine alte Frau, die im Ofen verbrennt.
»Ein kleiner Schnitt«, sagt Ruben und führt die Klinge spielerisch über seinen linken Handballen, »genau hier. Ein Ritzer nur. Und dann vermischen wir unser Blut und trinken
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