Der magische Reiter reiter1
Sträucher erbebten, als bräche eine wilde Bestie – ungleich größer als ein Eichhörnchen – durch Zweige und Buschwerk. Bilder von rasenden Wildkatzen und tollwütigen Wölfen schossen ihr
durch den Kopf. Sie hatte keine Waffen, um die Bestien abzuwehren, und konnte auch nicht davonlaufen; es schien, als hätten ihre Füße Wurzeln geschlagen.
Sie schnappte panisch nach Luft. Was für eine namenlose Bestie das auch immer sein mochte, sie kam genau auf sie zu — und zwar schnell.
In einer Explosion von Zweigen brach sie aus dem Wald hervor. Karigans Atem pfiff in der Kehle wie eine geborstene Pfeife.
Riesig und düster ragte das Wesen im Schatten der Bäume auf. Es schnaubte wild durch geblähte Nüstern, wie ein Dämon aus der Hölle. Karigan schloss die Augen und wich einen Schritt zurück. Als sie wieder hinsah, torkelte statt des bösen Drachen aus der Legende ein Pferd mit Reiter auf die Straße. Zweige und Laub rieselten von den beiden zu Boden.
Das Pferd, ein Brauner mit langen Beinen, war mit Schweiß bedeckt und schnaufte wie nach einem anstrengenden Lauf. Der Reiter hing vornübergeneigt auf dem Hals des Braunen. Er war in eine grüne Montur gekleidet. Äste und Zweige hatten blutige Striemen auf seinem weißen Gesicht hinterlassen. Die breiten Schultern zuckten vor Erschöpfung.
»Bitte …«, flüsterte er. Halb stieg, halb fiel er vom Pferd. Karigan schrie auf, als sie zwei Pfeile mit schwarzen Schäften aus seinem Rücken ragen sah.
Zögernd machte sie einen Schritt auf ihn zu.
Der Reiter war nur wenige Jahre älter als sie. Schwarzes Haar klebte an seiner schmerzverzerrten Stirn. Blaue Augen glänzten hell im Fieber. Er sah aus, als hätte er länger als menschenmöglich gegen den Tod angekämpft.
Er kam aus Sacoridien, dessen war sich Karigan sicher, obwohl
die grünen Uniformen erheblich seltener waren als das Schwarzsilber des Heeres.
» Hilfe …«
Sie näherte sich ihm mit unsicheren Schritten, als könnten ihre Beine sie nicht mehr tragen. Dann kniete sie sich neben ihn, wusste nicht, wie sie einem Sterbenden helfen sollte.
»Bist du Sacoriderin?«, fragte er.
»Ja.«
»Liebst du dein Land und deinen König?«
Karigan stutzte. Welch eine seltsame Frage. König Zacharias war noch nicht lange auf dem Thron, und sie wusste wenig von seiner Politik und seinen Methoden, doch es wäre nicht nett, einem sterbenden Diener Sacoridiens gegenüber treulos zu klingen.
»Ja.«
»Ich bin ein Bote … ein Grüner Reiter.« Der Körper des Jünglings verkrampfte sich vor Schmerzen, und Blut sickerte aus seinem Mund und das Kinn hinunter. »Die Tasche auf dem Sattel … wichtige Botschaft für … den König. Leben und Tod. Wenn du Sacor… Sacoridien und seinen König liebst, nimm sie. Bring sie ihm.«
»I-ich …« Ein Teil von ihr wollte schreiend davonlaufen, doch ein anderer Teil fühlte sich von seiner Bitte angezogen. Nach Korsa davonzulaufen statt in Selium zu bleiben, bis ihr Vater sie abholte, hatte den unwiderstehlichen Reiz des Abenteuers auf sie ausgeübt, und sie hatte es kaum erwarten können. Doch nun zeigte ihr das wahre Abenteuer seine furchterregende Fratze.
»Bitte«, flüsterte er. »Du bist … «
Die letzten Worte verklangen unhörbar, als Blut seine Kehle hinaufschoss und über die Lippen quoll, doch sie glaubte,
noch ein gehauchtes »die Einzige« aufgeschnappt zu haben. Die Einzige was? Die Einzige, die sich auf der Straße befand? Die Einzige, die die Botschaft überbringen konnte?
»Ich …«
» Gefährlich.« Er erschauerte.
Alles ringsum hüllte sich in gespanntes Schweigen, als warte die Welt mit angehaltenem Atem auf ihre Entscheidung.
Ehe sie wusste, wie ihr geschah, sagte Karigan schon: »Ich tu’s.« Die Worte hörten sich an, als hätte ein anderer sie ihr abgerungen.
»Sch-schwörst du?«
Sie nickte.
»Schwert. Bring es mir.«
Das Pferd scheute vor Karigan zurück, doch sie ergriff seine Zügel und zog den Säbel aus der Sattelscheide. Die geschwungene Klinge funkelte im Sonnenlicht, als sie ihn ausgestreckt vor sich hielt. Sie kniete sich wieder neben den Boten.
»Falte deine Hände um den Griff«, sagte er. Als sie es tat, legte er seine um ihre. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass seine Handschuhe gar nicht blutrot gefärbt waren, zumindest nicht von Anfang an. Er hustete, und noch mehr Blut quoll aus seinen Mundwinkeln. »Schwöre … Schwöre, dass du die Botschaft König Zacharias überbringen wirst … aus Liebe zu deinem Land.
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