Der magische Reiter reiter1
vernichten wollte, musste er stärker werden als der Granit selbst.
Seine Stimme fand ihre eigene Harmonie, die entgegen dem
Rhythmus im Innern des Walls verlief. Alles Große muss untergehen, sang er. Sing mit mir, folge mir.
In weiter Ferne klopfte sein Zeigefinger im neuen Rhythmus gegen den Wall. Es reichte nicht aus, um den Rhythmus von Hunderten von Hämmern zu verändern, doch er führte einen Missklang ein. War da nicht plötzlich eine gewisse Unsicherheit im Gesang? Gerieten nicht manche Hämmer aus dem Takt?
Ein Splittern, den Rissen gleich, die im Frühling das Eis auf den Seen durchziehen, lenkte ihn ab. Er verlor die Orientierung. Gesang und Rhythmus verklangen, und seine Verbundenheit mit dem Wall kam ins Schwanken.
Sein Körper sog wie ein Schwamm seinen Geist auf. Die Wucht ließ ihn zurücktaumeln, benommen und schwerfällig in seiner körperlichen Gestalt. Als ihm wieder einfiel, wie man Arme und Beine gebrauchte, untersuchte er sein Werk.
Ja, ja, ja! Ein haarfeiner Riss im Mörtel. Die Wunde würde größer werden, und er würde zurückkommen und den D’Yer-Wall niederreißen!
Doch nun musste er sich wieder in das Lager begeben, in dem die Menschen auf ihn warteten. Dem Wall einen Riss beizubringen, hatte einen Großteil seiner Energien aufgezehrt – es war kaum mehr genug übrig, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er würde für den Rest des Tages in schlechter Verfassung sein, doch die Soldaten warteten voller Ungeduld darauf, den Grünen Reiter zur Strecke zu bringen. Bald würden diese Ränke, die den Menschen so kostbar waren, ein Ende finden, doch einstweilen waren sie seinen Zwecken dienlich.
Er schlang sich den Langbogen und den Köcher mit den schwarzen Pfeilen über die Schulter und spürte, dass ihn jemand
anstarrte. Er schaute sich grimmig um, sah jedoch lediglich eine Eule, die über ihm auf einem Zweig hockte. Sie blinzelte, ließ den Mondblick erlöschen und drehte nach Art der Eulen den Kopf zur Seite.
Von einer Eule, die mit ihrer frühmorgendlichen Jagd befasst war, hatte der Graue nichts zu befürchten. Er begann mit seiner Anrufung und breitete dabei weit die Arme aus. Sie zitterten noch von der Anstrengung, dem Wall einen Riss beigebracht zu haben.
»Kommt herbei, o sterbliche Geister. Ihr seid meiner Macht untertan, in dieser Welt an mich gebunden. Begleitet mich nun und bringt mich dorthin, wohin ich gehen muss.«
Sein Wille rief sie herbei, sie konnten dem Ruf nicht widerstehen. Wie ein wässriges Flirren versammelte sich eine Schar Geister um ihn. Manche saßen auf Pferden, andere waren zu Fuß. Unter ihnen befanden sich Soldaten, Greise, Frauen und Kinder. Gemeine Bürger standen neben Rittern, Bettler drängten sich an der Seite von Edelleuten. Alle waren sie von zwei schwarzen Pfeilen durchbohrt.
»Bei den Pfeilen von Kanmorhan Vane, ich befehle Euch, mit mir zu kommen. Wir werden auf den schnellen Zeitpfaden der Toten reisen. «
TOTER REITER
Karigan G’ladheon erwachte vom Gezwitscher der Seidenschwänze und Meisen. Tauben gurrten klagend, und Eichelhäher verteidigten mit heiserem Gesang und flatternden Schwingen ihr Territorium. Über ihr breitete sich wie ein gewaltiger, dämmriger Baldachin das Firmament aus, und Sterne zwinkerten ihr daraus zu. Der Mond stand tief im Westen.
Karigan stöhnte. Sie lag am Rand eines Brachfelds hinter einer Hecke, und ihrem Rücken war das gar nicht recht.
Sie strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Alles war nass vom Tau, und die Kleidung klebte ihr kalt und klamm wie eine zweite Haut am Leib. Laut rief sie sich in Erinnerung, weshalb sie hier war.
»Um aus Selium fortzukommen.«
Sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Bis auf die Vögel lag das weite offene Land leer und still vor ihr. Hier gab es kein Glockengeläut zur Morgenflut, und auch das vertraute Knarren der Bodenbretter, wenn ihre Mitschüler durch das alte Wohnheim gingen und sich auf den Unterricht vorbereiteten, würde sie nicht vernehmen.
Sie stand auf und fröstelte in der kühlen Frühlingsluft. Wahrhaftig, sie war »fort« von Selium und würde, bevor der Tag zur Neige ging, noch viel weiter fort sein. Sie raffte ihre
Decke auf und stopfte sie mit ihren anderen Habseligkeiten in ein Bündel, stieg über die Hecke und marschierte los. Sie hatte wenig mehr bei sich als einen großen Kanten Brot, ein Stück Käse, Kleidung zum Wechseln und etwas Schmuck, der ihrer Mutter gehört hatte – die einzigen Gegenstände, die ihr so teuer waren,
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