Der magische Stein
verschwunden ist?«
»Was meinst du damit?«
»Deine Welt, Carlotta, aus der du stammst. Sie ist weg, oder siehst du das anders?«
»Im Moment habe ich keine Ahnung, was du meinst«, entgegnete das Vogelmädchen. »Da müsstest du schon konkreter werden, finde ich.«
»War dir nicht kalt?«
»Ja.«
»Und ist dir jetzt noch kalt?«, fragte die Gefesselte weiter.
»Nein.«
»Es ist warm, nicht?«
»Genau.«
»Und hast du eine Erklärung dafür?«, flüsterte Isa.
Carlotta brauchte nicht nachzudenken. Sie war ehrlich und gab zu, dass sie keine besaß.
»Eben, das ist es. Du hast keine Erklärung. Man kann als Mensch auch keine haben, wenn man nicht eingeweiht ist. Das ist nun mal so, und das wird bleiben.«
»Aber was ist mit dir, Isa? Hast du sie?«
»Ja.«
»Und wie lautet sie?«
»Wir sind nicht mehr in deiner Welt«, erklärte die gefesselte Frau. »Du hast eine Grenze überschritten, die nicht sichtbar ist. Du bist an einem uralten und unheiligen Ort gelandet. In dieser Welt ist alles anders. Du kannst sie nicht mit deiner vergleichen.«
Carlotta wollte sich weiterhin keine Gedanken machen. Sie fragte nur: »Was soll es denn für eine Welt sein? Kannst du mich da nicht aufklären?«
»Manche nennen sie Paradies.«
Das Vogelmädchen lachte. »Danach sieht es mir nicht aus. Ein Paradies stelle ich mir anders vor.«
»Das kann ich mir denken. Nur musst du deine menschlichen Maßstäbe vergessen. Es ist das Paradies der Druiden, aber auch das kann zwei Seiten haben.«
Bisher hatte Carlotta stets eine Antwort gegeben. Nun aber wurde sie nachdenklich. Isa hatte einen Begriff erwähnt, der ihr nicht ganz unbekannt war. So glaubte sie, schon mal etwas von einem Paradies der Druiden gehört zu haben, war sich allerdings nicht sicher. Sie ließ sich trotzdem Zeit und kramte in den Tiefen ihrer Erinnerung.
Der Name John Sinclair fiel ihr ein. Dabei kam ihr in den Sinn, dass dieses Paradies auch einen anderen Namen trug, den der Geisterjäger erwähnt hatte.
»Aibon?«, flüsterte sie.
Isa schrak zusammen. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Für eine Weile schloss sie den Mund vor Staunen nicht mehr. Dann flüsterte die Gefangene: »Du kennst das Land?«
Carlotta hob lässig die Schultern. »Ich habe davon gehört.«
Isa schwieg. Sie musste die Antwort verdauen. Sehr intensiv dachte sie nach, das war ihr anzusehen. Schließlich deutete sie ein Kopfschütteln an. »Flieh, bitte...«
»Nein.« Carlotta ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
Das Kopfschütteln blieb bestehen.
»Ich werde nicht fliehen. Auch wenn es sich dabei um Aibon handelt. Ich habe dich gefunden, und ich denke nicht daran, dich hier auf dem Stein hocken zu lassen. Das ist unter der Wurde eines Menschen. Man hat dich hierher geschafft. Ich will jetzt nicht mal wissen, weshalb und warum. Aber ich möchte nicht, dass du hier vergehst oder...«
Isa ließ das Vogelmädchen nicht ausreden. »Es muss so sein, begreife das endlich.« Ein flehender Blick traf Carlotta. »Manchmal liegen die Dinge eben anders, auch wenn es schlimm ist, was man mit den eigenen Augen zu sehen bekommt.«
»Soll das heißen, dass du dich nicht gegen dein verdammtes Schicksal auflehnen willst?«
»Genau das ist es. Ich habe es herausgefordert. Nur habe ich nicht damit gerechnet, dass es so verlaufen würde.«
Carlotta ließ nicht locker. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ein Mensch so reagierte und sich freiwillig einem grauenvollen Schicksal überließ. Sogar angekettet worden war sie, da war von der Freiwilligkeit nicht mehr viel übrig.
»Du kannst sagen was du willst, Isa, aber du kannst mich nicht überzeugen«, erklärte sie. »Ich sehe dich, ich sehe die Ketten, und ich kann von einer Freiwilligkeit nichts erkennen. Das Schicksal hat dir die große Chance zur Flucht gegeben. Und du solltest dich nicht dagegen stemmen, Isa.«
»Es gibt keinen anderen Ausweg.«
»Doch!«
»Und welchen meinst du?«
Carlotta lächelte, bevor sie sagte: »Ich sehe, dass man manche Menschen zu ihrem Glück einfach zwingen muss. Und das werde ich jetzt bei dir auch in die Hand nehmen.«
»Nein, das ist unmöglich. Das kannst du nicht. Ich muss hier auf dem Stein bleiben.«
»Unsinn!« Carlotta konnte manchmal sehr pragmatisch sein. Das hatte ihr Maxine Wells beigebracht.
Sie sah Isa’s Blick auf sich gerichtet. Er wirkte mehr fragend, und das Vogelmädchen gab die Antwort auf seine Weise. Bevor Isa sich wehren konnte, wurde sie von zwei starken
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