Der magische Stein
Armen umschlungen. Sie hörte den Atem dicht an ihrer linken Wange vorbeistreichen, spürte den Ruck, der sie von der Plattform abhob, und zugleich fingen die Ketten an zu klirren. Die Glieder schlugen in einer metallisch klingenden Musik gegeneinander. Einen Moment später verlor Isa den Kontakt mit der Oberfläche. Einer steifen Puppe ähnlich wurde sie in die Höhe gerissen. Sie wollte noch protestieren, aber Carlotta kannte kein Pardon.
Sie stellte Isa auf die Beine, hielt sie fest und schaute in das blasse, leicht verhärmte Gesicht der jungen Frau, an deren Körper noch die Ketten hingen wie ein schwerer Ballast, der auch für Carlotta zu einem Problem werden konnte. Sie war nur froh darüber, dass die Kette nicht an der Plattform befestigt war. Sie drehte sich um die Arme und auch die Beine der Aschblonden.
»Alles klar jetzt?«
Isa’s Blick flackerte. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Lippen zuckten, und sie flüsterte: »Wir schaffen es nicht. Nein, wir schaffen es nicht. Es ist nicht möglich.«
»Keine Sorge, ich bin kräftig. Du wirst jetzt auf meinen Rücken steigen und dich an den Schultern festhalten. Aber mach dich schmal, damit du mich nicht behinderst. Klar?«
»Ich weiß es nicht. Es kann nicht gut gehen.«
»Alles ist besser, als hier auf den Tod zu warten«, stellte Carlotta fest. »Du bist ein Opfer – nicht?«
»Ja und nein. Ich habe mich freiwillig...«
»Das zählt nicht mehr. Du musst einfach hier weg, verdammt! Alles andere kannst du vergessen.«
Isa drehte den Kopf. Sie schaute sich in der Gegend um wie jemand, der nach einem Ausweg sucht. Sie fand ihn nicht. Sie blieb eine Gefangene, obwohl sie jetzt auf ihren Beinen stand, wenn auch nicht besonders sicher, denn das Gewicht der Ketten ließ sie immer wieder in die Knie sinken.
Carlotta hob Isa an.
Dabei hatte sie Mühe, obwohl sie sich selbst als eine kräftige Person betrachtete. Fast wäre Isa sogar gefallen, und Carlotta wusste jetzt, welches Gewicht auf ihrem Rücken lasten würde. Sie kannte einige Mitflieger, aber die Ketten plus das Körpergewicht – es würde nicht leicht werden, und sie würde wohl mehrere Pausen einlegen müssen, um letztendlich zum Ziel zu gelangen.
»Auf den Rücken«, forderte Carlotta. »Los!«
Isa hob die Schultern. Sie wollte nicht. Das Vogelmädchen sah es ihr an, und sie fragte sich, wieso jemand dieses Verhalten an den Tag legte. Da musste einfach mehr dahinter stecken als nur dieser eine Widerstand, davon ging sie aus.
»Du musst es aber tun!« Sie hatte diesen Befehl sogar geschrien, aber Isa reagierte nicht. Sie war plötzlich sehr steif geworden und schaute dabei in eine bestimmte Richtung. Und zwar so auffällig, dass auch Carlotta misstrauisch wurde. Für einen Moment vergaß sie ihr Vorhaben und starrte in die Dunkelheit.
Zu erkennen gab es da nichts. Oder nicht viel. Aber sie hatte den Eindruck einer bestimmten Veränderung, denn es kam ihr vor, als hätte sich die Welt dort verdichtet und wäre dabei noch finsterer geworden, wobei sich selbst der Nebel zurückhielt.
Da war etwas. Da kam etwas, und wahrscheinlich wusste Isa verdammt genau Bescheid.
Die Frage blieb ihr in der Kehle stecken, denn es passierte etwas, auf das sich Carlotta nicht hatte einstellen können. Für einen Moment vernahm sie das Brausen, das auch lauter wurde und sie auf zwei Arten erreichte.
Zum einen wurden ihre Ohren damit gefüllt. Es gab nichts anderes mehr, was sie hörte.
Zum anderen erhielt das Vogelmädchen einen Schlag, der es völlig überraschend traf. Er war so hart, dass Carlotta ihm nichts entgegensetzen konnte. Sie wurde regelrecht von der Plattform geweht, und dieser Windstoß war eins mit einer stockdunklen Wolke, die sich zu einer Orkanbö verdichtet hatte.
Carlotta wurde tatsächlich über den Rand der Plattform hinweggeschleudert. Jetzt wartete die Tiefe auf sie und würde sie schlucken wie das Tor der Hölle. Das Vogelmädchen wusste nicht, ob es genug Kraft besaß, um sich gegen die Gewalten zu stemmen. Bei ihren Flügen war Carlotta noch nie in einen. Orkan hineingeraten.
Eines aber gelang ihr trotzdem.
Bevor sie über die Kante gespült wurde, gelang es ihr, Isa zu packen und sie mitzunehmen.
Beide gerieten in den mörderischen Sturmwind, der sie zu Spielbällen degradierte...
»Ich weiß nicht, ob man mich töten will, aber ich denke, dass es letztendlich darauf hinausläuft. Ich muss einsehen, dass ich den falschen Weg gegangen bin. Bitte, rufen Sie mich an, Mr.
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