Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
hätte am liebsten gespuckt. Außerdem hatte man mir irgendwas über den Kopf gezogen.«
»Eine Kapuze?«
Ein Zucken ließ das Metallbett knirschen. Der Mann hyperventilierte ein paar Sekunden, bevor sich seine Atmung wieder schrittweise normalisierte. »Vielleicht ein Strohsack oder so. Auf jeden Fall ließ der Stoff genug Luft durch, so dass ich atmen konnte.«
»Aber sehen konnten Sie nichts?«
Verneinende Kopfbewegung.
»Waren es mehrere?«
Das birnenfömige Gesicht war so tief in dem weichen Kissen versunken, dass die Wangen dicker schienen, als sie eigentlich waren. »Nur einer.«
»Sicher?«
Rino deutete das Schweigen als Bestätigung. »Was ist dann passiert?«
»Das meiste hab ich nur verschwommen mitbekommen. Aber ich merkte so allmählich, dass ich in einem Kofferraum lag. Ich bin erst wieder so richtig zu mir gekommen, als man mich rausließ.«
»Wie hat er Sie da raustransportiert?«
»In einem Kanu.«
Mit dieser Antwort hatte der Kommissar nicht gerechnet. »In einem Kanu?«
»Es war eng und schmal. Die Querstreben scheuerten an meinen Schultern und Hüften. Es muss ein Kanu gewesen sein.«
Es dürfte eher eine Seltenheit sein, dass jemand mit dem Kanu nach Landegode hinausfuhr, nahm Rino an, also mussten ein paar wachsame Augen das Gefährt durchaus bemerkt haben. »Haben Sie eine Ahnung, wann genau in der Nacht das Ganze passierte?«
»Wir schließen um halb drei, es muss also irgendwann kurz vor drei gewesen sein. Es dauerte ewig, bis es hell wurde, auf jeden Fall kam es mir so vor. Wenn Sie so dasitzen und drüber nachdenken, wie hoch die Flut wohl steigen wird …« Ein weiterer Schauder ließ keinen Zweifel daran, wie lebhaft sich der Mann erinnerte. »Er ließ das Seil los, und dann sollte ich leise bis tausend zählen, bevor ich die Kapuze abnahm. Ich machte es so, wie er es mir gesagt hatte, und zählte im Sekundentakt, während mir der Schmerz in den Händen tobte. Ich glaube, deswegen kam ich auch nicht in Versuchung, schneller zu zählen. Ich hatte Angst vor dem, was ich entdecken würde, wenn ich die Kapuze abnahm, dass er irgendwas Schlimmes mit meinen Händen gemacht haben könnte. Denn ich spürte meine Hände überhaupt nicht mehr, bloß noch diesen irren Schmerz.«
Rino ballte die Fäuste. »Man hat eine Zeichnung gefunden, die an dem Felsen befestigt war, neben dem Sie saßen. Wir gehen davon aus, dass der Täter sie dort hinterlassen hat.«
Weder Bestätigung noch Verneinung. Nur ein glasiger, leerer Blick.
»Es sieht einfach aus wie ein Wirrwarr aus Strichmännchen, eine Kinderzeichnung. Unter anderen Umständen würde man sich nicht länger damit aufhalten, aber in Verbindung mit einer sadistischen Tat wie dieser …«, er beugte sich zu dem Mann vor, »… liegt die Vermutung nahe, dass es doch irgendwas zu bedeuten hat. Auch die Art, wie das Blatt befestigt war. Am einfachsten wäre es doch gewesen, die Zeichnung auf einen Stein zu legen und sie mit ein paar kleineren Steinen zu beschweren, um zu verhindern, dass das Papier davongeweht wird. Aber es so auf den Fels zu kleben …«
»Er wollte, dass ich sie sehe.«
»Der Meinung sind wir auch. Die Frage ist bloß, warum?«
»Irgendwann habe ich nur noch diese Zeichnung gesehen und nichts anderes mehr wahrgenommen. Aber ich versichere Ihnen, ich weiß nicht, wer das getan hat und warum.«
Die Antwort überraschte Rino nicht. Denn auch beim ersten Fall war eine solche Strichmännchenzeichnung gefunden worden, anscheinend identisch. Doch weder das Opfer noch die Ermittler hatten irgendeine Bedeutung herauslesen können. Auch nicht Rino, der sich die Zeichnung an die Wand gehängt und sie monatelang angestarrt hatte, bis auch er irgendwann resignierte.
»Und die Unterschrift?« Auch sie war dieselbe wie letztes Mal: die Initialen D.V., in der Ecke links unten.
Der Mann versuchte, den Kopf zu schütteln.
»Die sagt Ihnen also nichts?«
»Überhaupt nichts.«
Da ging leise die Tür auf. Es war die Krankenschwester. »Doktor Vathne Berg möchte Sie an die Zeit erinnern.«
Rino spürte das dringende Bedürfnis, die Überbringerin der Botschaft mit einer Antwort zurückzuschicken, die den Herrn Doktor von seinem Sockel fegte, doch er riss sich zusammen. Stattdessen wandte er sich wieder dem Patienten im Bett zu. »Wäre es in Ordnung, wenn wir noch fünf Minuten weitersprechen? Meiner Meinung nach wäre das empfehlenswert. Denn wie Sie vielleicht noch aus Ihrer Schulzeit wissen, ist der Vertretungslehrer immer
Weitere Kostenlose Bücher