Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Versuch, ihn hochzuziehen, entdeckten sie die Kette.
»Wie haben Sie das denn gemacht …?« Sogar in der starken Dünung waren die Handschellen nicht zu übersehen, die unter Wasser am Gestein befestigt waren.
Abermals riss der Mann an der Kette, und sein bläulich blasses Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Er weinte nicht und jammerte nicht, doch sein Gesichtsausdruck sprach von unbändiger Angst.
»Was für ein kranker Wichser hat das denn gemacht?«
Der Mann sah an den beiden Jungs vorbei und deutete mit einer nickenden Kopfbewegung hinter sie.
2
Bergland, 300 Kilometer nördlich von Bodø
Die Brandung wälzte sich träge ans Ufer, während die Schaumkronen das diesige Licht der Herbstsonne reflektierten. Das alte Ehepaar ging über die Klippen ans Meer hinunter, er immer ein paar Schritte voraus, damit er ihr beim Abstieg behilflich sein konnte. Unten am Strand angekommen nahm er ihre Hand, und in sicherem Abstand zu den anbrandenden Wellen schlenderten sie weiter. Hier waren sie schon unzählige Male entlanggegangen, doch sie ließen sich alle Zeit der Welt, um die Nähe zueinander und zu ihrer Umgebung bewusst zu genießen. In regelmäßigen Abständen legte sie ihm den Kopf auf die Schulter und zeigte auf etwas. Dann blieben sie kurz stehen, nickten einträchtig und setzten ihren Weg fort.
Als sie sich der Bucht auf der anderen Seite näherten, unterbrachen sie ihren Spaziergang ein weiteres Mal. Wieder hatte sie etwas erspäht, was sie ihm zeigen musste. Obwohl man unmöglich erkennen konnte, was das Meer da gerade anspülte, war es ihr ins Auge gefallen, und sie blieben stehen.
»Was ist das bloß?«, fragte sie.
»Keine Ahnung.«
Schweigend standen sie am Strand. Immer noch Hand in Hand.
Der Gegenstand kam näher, und er spürte, wie sich ihre Finger fester um seine schlossen.
»Sieht aus wie eine Puppe oder so was«, meinte er.
»Ein vergessenes Spielzeug, das vom Meer weggeschwemmt wurde.«
Er zögerte. »Das hat wohl eher jemand ausgesetzt. Irgendwie sieht das ganz so aus, als würde das Ding auf einem kleinen Floß liegen.«
»Also … haben sie hier letzte Woche nicht schon mal so was gefunden – eine alte Puppe auf einem Floß?«
»Schon.«
Bald hatten die Wellen den Gegenstand die letzten Meter bis zum Strand getragen. Der Mann watete ins Wasser und nahm ihn vorsichtig heraus. Das Floß war aus Bast, mit einer Art Reling und quer darübergespannten Drähten, damit die Puppe nicht über Bord gehen konnte.
Er reichte es ihr. »Eine Puppe auf Reisen.«
Sie blieb stehen und starrte das Spielzeug mit einem Blick an, den er nicht recht deuten konnte. »Eine Porzellanpuppe.«
»Eine alte?«
Sie nickte, ohne die Augen von der Puppe zu wenden. Die Farben waren ausgebleicht. Das vermutlich ehemals schwarze Kleid war zu einem schmutzigen Grau verblasst, und der einst schneeweiße Hut hatte sich zu einem fleckigen Gelb verfärbt. Behutsam nahm sie die Puppe aus dem Bastfloß und hielt sie vor sich hin. »Das gefällt mir gar nicht.«
»Wahrscheinlich wollte da jemand einfach, dass die Puppe einen neuen Besitzer findet.«
Sie musterte die Puppe weiter und drehte sie vorsichtig hin und her. »Solche Puppen kann man heute gar nicht mehr kaufen. Zwei so alte Puppen in einer Woche? Warum? Irgendwie kommt mir das fast vor wie … eine Art Vorwarnung. Ein böses Omen.«
»Ach, Ada, ich bitte dich.«
»Als ob … ich weiß nicht.«
Er legte ihr einen Arm um die Schultern. »Als ob was?«
Sie seufzte und wand sich schaudernd. »Als ob jemand seine Verzweiflung durch diese Puppe herausschreien wollte.«
3
Bodø
Evil walks behind you
Evil sleeps beside you
Evil talks arouse you
Evil walks behind you
»Hast du schon mal drüber nachgedacht, was dieser heisere Trottel da eigentlich singt?« Der Junge war fast zwölf und lümmelte auf dem Beifahrersitz.
»Eigentlich nicht. Der Clou an dem Song ist einfach, dass einem davon die Rippen vibrieren.«
»Oh Gott!« Der Junge verdrehte die Augen. »Außerdem sind Kassetten voll out. Und das ungefähr seit zwanzig Jahren.«
»In diesen 214er kommt mir kein CD -Player.« Kommissar Rino Carlsen tätschelte zärtlich das Armaturenbrett und bedachte seinen Sohn mit einem strafenden Blick. »Und weißt du auch, warum?«
Der Junge zog wieder eine Grimasse.
»Weil hier Hip-Hop-freie Zone ist. Demnächst wahrscheinlich die Letzte ihrer Art. Hier drin gibt es keinen Puff Duffy oder Dust Daddy.«
»Puff Daddy. Und der heißt jetzt übrigens P.
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