Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Sensenmann durchs Zimmer geistern«, sagte er. »Er wartet nur darauf, dass er in einem unbeobachteten Moment zuschlagen kann. Schade, der Mai ist für mich immer der schönste Monat des Jahres gewesen. Mutter Natur sieht dann aus, als habe sie ein Duftbad genommen und ihr schönstes Kleid angezogen. Der Oktober wäre für mich der geeignete Monat zum Sterben, gemeinsam mit dem fallenden Laub. Aber diese Wahl steht uns leider genauso wenig frei wie die des Tages, an dem wir geboren werden, und aus wessen Schoß.«
»Meister…« Mathurina zögerte. Wer weiß, wie Leonardo reagieren würde.
»Nur freiheraus damit, was immer du auch auf der Leber hast«, sagte Leonardo. »Ich bin ohnehin nicht mehr imstande, dir die Leviten zu lesen.«
»Ich wollte fragen, ob…« Sie schaute hilflos zu Melzi, der gerade eintrat.
»Wir haben uns gefragt, ob es nicht gut wäre, einen Priester kommen zu lassen«, kam Melzi Mathurina zu Hilfe.
Leonardo seufzte. »Das hatte ich schon befürchtet. Muss das denn sein? Geistliche sind doch genau wie Ärzte nur darauf aus, den Gutgläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen. In dem Punkt gebe ich Martin Luther vollkommen recht. Könnt ihr den nicht kommen lassen?«
»Auch der König würde Wert darauf legen«, betonte Melzi. »Dass ein Priester kommt, meine ich. Es würde ihn betrüben, wenn du ohne die letzten Sakramente von uns gingest.«
Leise, aber mit Nachdruck, sagte Mathurina: »Gönnen Sie mir diesen Trost, Meister…«
Leonardo heftete den Blick auf sie und sah die flehentliche Bitte in ihren Augen. »Ich werde es mir überlegen«, versprach er.
Es geht mir ums Prinzip, dachte er, als er wieder allein war. Dabei habe ich immer verkündet, dass Prinzipien nur dazu erfunden wurden, dem Menschen das Leben noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon ist. Er war dem Pfarrer der Kirche St.Denise schon einige Male begegnet, und der Mann hatte gar keinen schlechten Eindruck auf ihn gemacht. Außerdem, wo war die Konsequenz, wenn man einerseits keinen Geistlichen an sein Sterbebett lassen wollte, andererseits aber in allen Einzelheiten in seinem Testament festgelegt hatte, wie man in der Kapelle beigesetzt zu werden wünschte? Die nahe Sankt-Hubertus-Kapelle hatte ein prachtvolles gotisches Interieur, das ihm sehr zusagte. Dort würde er es aushalten können, hatte er gedacht, als er sich das letzte Mal zu einem Gang dorthin hatte aufraffen können.
Und Mathurina… Er wollte nicht in dem Bewusstsein sterben, dass er ihr seine Mitwirkung in dem letzten Theaterstück verweigert hatte, wo es ihr so viel zu bedeuten schien.
Er griff zu dem Glöckchen, das auf dem Hocker neben seinem Bett lag, um Melzi zu läuten.
Der König war nicht zugegen, als der Priester kam, denn er hatte in Sachen eines wichtigen Erlasses schweren Herzens in das zwei Tagesritte entfernte Saint-Germain-en-Laye reisen müssen.
Doch einige neugierige Bürger von Amboise hatten sich in respektvoller Entfernung vor Leonardos Haus versammelt, nachdem sie den Pfarrer mit der Monstranz hatten dorthin gehen sehen.
Der Pfarrer gebärdete sich zu Leonardos Erleichterung sachlich und routiniert. Es handelte sich ganz offensichtlich um ein Ritual, das er häufig ausführte, in schlimmen Zeiten womöglich sogar mehrmals am Tag. Er verzichtete auf leere Phrasen und wartete schweigend ab, bis der ihn begleitende Ministrant die nötigen Vorbereitungen getroffen hatte.
»Ich muss Ihnen die Beichte abnehmen, Meister da Vinci«, sagte er dann und bat alle anderen Anwesenden, das Zimmer zu verlassen.
»Ich habe natürlich sündig gelebt«, sagte Leonardo. »Wie jeder normale Mensch. Aber wo Gott doch alles weiß, wird er gewiss auch meine Sünden kennen. Wozu also noch dieses Ritual?«
Der Pfarrer blieb ungerührt. »Sie haben Ihren Glauben verloren, nicht wahr, Meister?«
»Ich glaube an nichts, was nicht bewiesen werden kann.«
»Dass Gott und der Himmel und die Hölle nicht existieren, ist genauso wenig zu beweisen.«
» Dimmi , warum offenbart sich Gott denn nicht klar und deutlich, so dass wir mit Sicherheit wissen, woran wir sind?«
»Meister da Vinci, ich fühle mich nicht dazu berufen, jetzt eine theologische Grundsatzdiskussion mit Ihnen zu führen.«
»Weil ich Ihnen einen Schritt voraus bin?«
»Verzeihen Sie, aber ich verstehe nicht, was Sie damit…«
»Nun, es sieht doch ganz so aus, als würde ich es bald genau erfahren. Aber für wahrscheinlicher halte ich es, dass ich dann gar nichts mehr wissen
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