Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
der unerschlossenen, waldreichen Abschnitte in der Umgebung von Vinci hinabzuschauen. Am liebsten tat sie das, wenn es wie heute geregnet hatte, weil die aufgefrischte Luft dann geradezu betäubend nach Bäumen, Blumen und Kräutern duftete. Und die Sonnenstrahlen, die durch die aufreißenden Wolken blitzten, ließen die ohnehin schon bezaubernde Landschaft erstrahlen, als hätte ein großer Meister sie für eine biblische Szene gemalt. Man erwartet fast, dass jeden Moment der liebe Gott, von Engeln umringt, auf einer Wolke vom Himmel herabgeschwebt kommt, um diese herrliche Landschaft zu segnen, dachte Caterina, der es nicht an Einbildungskraft fehlte.
Sinnierend ließ sie den Blick von den vielen Esskastanien und Pinien über die Olivenhaine mit den von Bäumen beschatteten Pächterhäusern und die tiefer gelegenen schmalen Weinberge zu dem etwas unordentlichen Städtchen wandern, das weiter unten auf einem Plateau inmitten der Hügel lag. Dort, zwischen den knospenden Feigenbäumen und den blühenden Ringelblumen, wohnte Notar Ser Piero da Vinci, der Vater ihres Kindes. Sein Haus war aus dieser Entfernung gerade nicht mehr zu erkennen.
»Dein Vater hat mir einst versprochen, mich zu heiraten«, sagte Caterina zu ihrem Söhnchen, das sie mit großen Augen ansah.
Leonardo war im Allgemeinen ein fröhliches Kind, aber es gab auch Phasen, in denen er ungewöhnlich ernst, ja fast schwermütig war. Oft saß er reglos da und beobachtete die Menschen, die Tiere und das Geschehen um sich herum. Dabei schien es manchmal, als habe er Einblick in Dinge, die den Erwachsenen entgingen – ein Eindruck, der mit seinen selbst für einen Südländer ungewöhnlich dunklen Augen zu tun haben mochte.
»Aber nun hat er die fünfzehnjährige Albiera mir vorgezogen«, fuhr Caterina fort. Es klang nicht einmal bitter. »Bin ich ihm mit meinen fünfundzwanzig zu alt? Oder stört ihn vielleicht, dass ich aus einfachem Hause stamme? Ja, das wird es wohl sein. Ser Piero ist ein vermögender Mann, und als Notar möchte er gewiss keinen Vertrag zu seinen Ungunsten schließen.« Sie strich Leonardo über den Kopf. »Aber immerhin hat er eine andere Heirat für mich arrangiert, mit einem starken Mann, der sogar jünger ist als ich. Antonio heißt er. Er wird Accattabriga genannt, weil er Soldat war und dabei viel Mut bewiesen hat. Wir werden bald getraut. Es gibt nur ein Problem…« Caterina hielt kurz inne und verlagerte Leonardos Gewicht auf ihrem Arm. Mit veränderter Stimme fuhr sie fort: »Antonio reißt sich nicht darum, das Kind eines anderen bei sich aufzunehmen…« Als Leonardo sie ansah, wich sie seinem Blick aus, als schäme sie sich. »Es wird für ihn als Landarbeitersohn schon schwer genug sein, das Brot für unsere eigenen Kinder zu verdienen, sagt er. Und damit hat er wohl recht. Aber…« Caterina brach erneut ab, um dann in rebellischem Ton hervorzustoßen: »Ich will dich nicht einfach hergeben, auch wenn Ser Piero dich in seine Obhut nehmen möchte. Seiner jungen Frau scheint das wohl nichts auszumachen.« Sie seufzte, ein zittriges Seufzen, als sei sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Aber Piero hat keinen schlechten Charakter, und ich bin mir sicher, dass er dir ein guter Vater sein kann. Außerdem ist er nicht unvermögend, wie ich schon sagte…«
Sie dachte an Leonardos Taufe am Weißen Sonntag, einen Tag nach seiner Geburt. Sie hatte in der Gemeindekirche von Vinci, der Santa Croce, stattgefunden. Obwohl Leonardo kein eheliches Kind von ihm war, hatte Ser Piero viele Bekannte zur Taufe eingeladen, und im Anschluss hatte es ein Fest gegeben. Ser Piero war unverkennbar stolz auf seinen Sohn, Bastard hin oder her.
»Du wirst bestimmt noch Geschwisterchen bekommen«, sagte Caterina geistesabwesend.
Die hätte er auch bekommen, wenn Piero zu seinem Wort gestanden hätte, dachte sie, und jetzt war die Bitterkeit doch da. Dass sie sehr fruchtbar war, hatte sie bereits bewiesen. Ganze drei Mal hatte sie mit Piero das Bett geteilt, da war sie schon schwanger gewesen. Sie hatte sich zunächst Sorgen gemacht, wie Piero wohl darauf reagieren würde, aber er hatte nichts als Zufriedenheit über dieses Geschenk Gottes empfunden, wie er es genannt hatte.
Caterina schaute Leonardo forschend an. »Manchmal frage ich mich, wie viel du von all dem, was ich dir erzähle, wohl begreifst. Gar nichts, müsste die Antwort lauten. Aber irgendwie habe ich oft das Gefühl, dass dir kein Wort entgeht.«
Vielleicht können kleine
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