Der Mann auf dem Balkon
sagte der Kommissar. »Habt ihr schon was gefunden?«
»Nichts, soweit ich weiß. Der Regen hat wohl sämtliche Spuren verwischt.«
»Wann ist es passiert? Gestern abend hat es ganz in der Nähe einen Raubüberfall gegeben, ich hab gerade den Bericht gelesen.«
»Tja«, antwortete Kollberg, »das kann man noch nicht sagen. Das wird sich erst nach der Obduktion herausstellen.«
»Glaubst du, daß es derselbe Kerl war? Daß sie eventuell den Überfall mit angesehen hat oder so?«
»Wenn sie vergewaltigt wurde, wohl kaum. Ein Räuber, der zugleich noch ein Sexualverbrecher ist - das wäre wohl ein bißchen viel auf einmal«, meinte Kollberg.
»Vergewaltigt. Sagt der Arzt das?«
»Zumindest schloß er die Möglichkeit nicht aus.« Kollberg seufzte und kratzte sich am Kinn. »Der Polizist, der mich hierher gefahren hat, sagte mir, daß sie wissen, wer die Kleine ist«, setzte er bekümmert hinzu.
»Ja«, nickte der Kommissar. »Es sieht leider so aus. Granlund war gerade hier und hat sie nach einem Foto, das die Mutter gestern hiergelassen hat, identifiziert.« Der Kommissar öffnete eine Mappe, nahm ein Amateurfoto heraus und schob es Kollberg hin. Auf dem Bild stand das Mädchen, das nun tot im Vanadislunden lag, an einen Baum gelehnt und blinzelte in die Sonne. Kollberg nickte und gab das Bild zurück.
»Wissen die Eltern schon, daß…«
»Nein«, knurrte der Kommissar, riß ein Blatt vom Notizblock und reichte es Kollberg hinüber.
»Frau Karin Carlsson, Sveavägen 83«, las Kollberg laut.
»Die Kleine hieß Eva«, sagte der Kommissar. »Es ist wohl am besten, daß jemand… daß du gehst. Jetzt. Bevor sie es auf schlimmere Art erfahrt.«
»So wie es ist, ist es schlimm genug«, entgegnete Kollberg und seufzte. Der Kommissar sah ihn ernst an, sagte aber nichts.
»Im übrigen dachte ich eigentlich, daß dies hier dein Revier ist«, meinte Kollberg, stand aber pflichtschuldig auf und sagte ergeben: »Okay, okay, ich gehe. Einer muß es ja tun.«
An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: »Kein Wunder, daß wir nicht genug Leute kriegen. Man muß halb verrückt sein, um Polizist zu werden.«
Er ließ das Auto bei der Stefanskyrkan stehen und beschloß, bis zum Sveavägen zu laufen. Er brauchte noch eine seelische Atempause, bevor er den Eltern des Mädchens gegenübertrat.
Die Sonne schien. Die Pfützen waren getrocknet. Kollberg fühlte sich bedrückt von der vor ihm liegenden Aufgabe. Er hatte Ähnliches schon öfter erledigen müssen, doch diesmal, wo es sich um ein Kind handelte, war es doppelt schwer. Wenn nur Martin hier wäre, dachte er, der kann das viel besser als ich. Doch dann fiel ihm ein, wie deprimiert Martin Beck in solchen Situationen stets war, und er verfolgte den Gedankengang nicht weiter. Nein, es war für alle gleich schwer.
Das Haus, in dem das tote Mädchen gewohnt hatte, lag schräg gegenüber dem Vanadislunden, in einem Viertel zwischen der Surbrunnsgatan und der Frejgatan. Der Aufzug war außer Betrieb, und er mußte die fünf Treppen zu Fuß hinaufgehen. Vor der Wohnungstür holte er erst noch ein Weilchen tief Luft, bevor er klingelte.
Fast gleichzeitig öffnete die Frau die Tür. Sie trug einen braunen Baumwollrock und Sandalen. Das blonde Haar sah struppig und ungekämmt aus, so, als sei sie wieder und wieder mit den Fingern hindurchgefahren. Bei Kollbergs Anblick sprachen im Wechsel Enttäuschung, Hoffnung und Angst aus ihrem Gesicht.
Kollberg zeigte seine Legitimation vor. »Darf ich hereinkommen?«
fragte er.
Die Frau hielt die Tür auf, trat zur Seite, bückte ihn verzweifelt an und fragte: »Haben Sie sie noch nicht gefunden?«
Ohne zu antworten, ging Kollberg an ihr vorbei in die Wohnung. Es schienen zwei Zimmer zu sein. Im ersten standen ein Bett, einige Bücherregale, ein Schreibtisch, ein Fernsehgerät, eine Kommode und je ein Sessel an den Längsseiten eines Teakholztisches. Das Bett war gemacht. Vermutlich war es in der letzten Nacht überhaupt nicht benutzt worden. Auf der blauen Tagesdecke stand ein aufgeklappter Koffer, daneben lagen ein paar Stapel ordentlich zusammengelegter Kleidungsstücke. Über dem Deckel hingen einige frischgebügelte Baumwollkleider. Die Tür zum anderen Zimmer war offen. Kollberg konnte ein blaugestrichenes Regal mit Büchern und Spielsachen erkennen. Ganz oben thronte ein weißer Teddybär.
»Wollen wir uns nicht setzen?« fragte Kollberg und nahm in einem der Sessel Platz. Die Frau blieb stehen, Angst sprach aus
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