Der Mann auf dem Balkon
ihren Augen.
»Was ist geschehen? Haben Sie sie gefunden?«
Kollberg sah die Angst und die Panik in ihrem Blick und bemühte sich, ruhig zu bleiben.
»Ja«, sagte er, »aber bitte, setzen Sie sich doch, Frau Carlsson. Wo ist denn Ihr Mann?«
Sie nahm auf dem zweiten Sessel Platz.
»Ich habe keinen Mann. Wir sind geschieden. Wo ist Eva? Was ist passiert?«
»Frau Carlsson«, sagte Kollberg, »es tut mir unendlich leid, aber ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Ihre Tochter ist tot.«
Die Frau starrte ihn an.
»Nein«, flüsterte sie. »Nein.« Kollberg stand auf und ging zu ihr hinüber.
»Haben Sie niemanden, der sich um Sie kümmern könnte? Ihre Eltern vielleicht?« Die Frau schüttelte den Kopf.
»Das ist nicht wahr«, sagte sie.
Kollberg legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte hilflos: »Es tut mir so furchtbar leid.«
»Wie… wie ist es denn passiert?« fragte sie. »Wir wollten aufs Land fahren…«
»Wir wissen es noch nicht genau«, antwortete Kollberg. »Wir glauben… sie ist irgendwem in die Hände gefallen.«
»Getötet? Ermordet?« Kollberg nickte.
Die Frau schloß die Augen und saß reglos da. Dann öffnete sie die Augen wieder und schüttelte den Kopf.
»Nicht Eva«, sagte sie, »es ist nicht Eva. Sie haben… Sie haben sich geirrt.«
»Leider nein«, entgegnete Kollberg. »Es tut mir so leid, Frau Carlsson. Kann ich nicht jemand anrufen? Damit Sie nicht so allein sind? Ihre Eltern oder sonst irgend jemand?«
»Nein, nein, bloß nicht! Ich kann jetzt niemanden um mich haben.«
»Ihr früherer Mann?«
»Er wohnt, glaube ich, in Malmö.«
Sie war leichenblaß, ihr Blick wirkte leer. Kollberg war sich darüber im klaren, daß sie noch nicht voll begriffen hatte, was geschehen war. Sie wehrte sich dagegen, die Wahrheit zu erfassen. Er hatte diese Reaktion schon früher erlebt. Wenn die Schranke des Selbstschutzes fiel, würde sie zusammenbrechen.
»Wer ist Ihr Arzt, Frau Carlsson?« fragte Kollberg.
»Doktor Ström. Wir waren Mittwoch dort. Eva hatte mehrere Tage lang Bauchschmerzen gehabt, und weil wir aufs Land fahren wollten, dachte ich, es wäre das beste…« Sie unterbrach sich und sah durch die offene Tür ins Nebenzimmer.
»Eva ist niemals richtig krank«, murmelte sie, »und es ging dann vorbei, das mit dem Magen. Der Doktor meinte, es sei eine vorübergehende Magenverstimmung.« Sie schwieg eine Weile. Dann flüsterte sie so leise, daß Kollberg die Worte nur ahnen konnte: »Nun geht es ihr wieder gut.«
Kollberg sah sie an. Er war ratlos und kam sich völlig hilflos vor. Er wußte nicht, was er sagen oder tun sollte. Sie sah immer noch durch die offene Tür ins Kinderzimmer hinüber. Er suchte verzweifelt nach Worten, als sie plötzlich aufstand und mit lauter, schriller Stimme den Namen ihrer Tochter rief. Dann lief sie ins Nebenzimmer. Kollberg folgte ihr.
Das Zimmer war hell und freundlich möbliert. In der Ecke stand ein blaugestrichenes Regal voller Spielsachen und am Fußende des schmalen Bettes eine altmodische Puppenstube. Ein Stapel Schulbücher lag auf dem Schreibtisch.
Die Frau saß auf der Bettkante, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Sie schaukelte mit dem Oberkörper hin und her. Kollberg konnte nicht hören, ob sie weinte.
Er beobachtete sie noch einen Augenblick, dann ging er hinaus. Im Flur hatte er das Telefon gesehen. In dem danebenliegenden Adreßbuch fand er Dr. Stroms Nummer. Als Kollberg die Situation erklärt hatte, versprach der Arzt, sofort zu kommen. Kollberg ging zu der Frau zurück. Sie saß noch in derselben Stellung da wie zuvor. Und sie schwieg noch immer.
Kollberg setzte sich neben sie und wartete. Anfangs wagte er es nicht, sie zu berühren, aber nach einer Weile legte er vorsichtig den Arm um ihren Rücken. Sie schien seine Gegenwart nicht zu bemerken.
So saßen sie schweigend nebeneinander, bis die Stille durch das Klingeln des Arztes unterbrochen wurde.
8
Kollberg spürte, als er auf dem Rückweg durch den Vanadislunden war, daß ihm der Schweiß ausbrach. Das kam nicht vom Gegenwind oder der feuchten Sonnenwärme oder seiner relativen Korpulenz. Auf jeden Fall nicht ausschließlich.
Wie die meisten, die mit diesem Fall zu tun bekommen sollten, war er bereits vor Beginn der Ermittlungen erschöpft. Er dachte an die Unmenschlichkeit dieses Verbrechens, an die Menschen, die völlig sinnlos getötet worden waren. So war es ihm schon früher ergangen, wie oft, konnte er so
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