Zum Nachtisch wilde Früchte
1
Am 21. Januar 1945 rannten fünf Männer bei Meseritz an der Obra durch den Schnee. Sie rannten um ihr Leben.
Um sie herum schlugen heulend die Raketengeschosse der Stalinorgeln ein, wirbelte der Boden zu schmutziggrauen Fontänen auf, zirpten die Kugeln überschwerer Maschinengewehre an ihren schweißnassen, in Angst und Entsetzen verzerrten Gesichtern vorbei.
»Nach links! Jungs, nach links!« schrie der Vorderste und zeigte auf eine Talsenke, über die ein leichter Schneenebel wehte. Er blieb stehen und blickte zurück zu den anderen vier taumelnden Gestalten.
Wie Riesenhasen, im Zickzack, hetzten sie durch den aufstaubenden Schnee. Zwei hatten einen dritten in ihre Mitte genommen und schleiften ihn an den Armen mit sich.
Am Rande des Wäldchens südlich Meseritz waren Panzer aufgefahren. Klobige, dunkle Riesen. Russische T 34. Hinter ihren träge drehenden Türmen hockten Rotarmisten in langen, erdbraunen Mänteln.
Die sowjetische Offensive an Warthe und Oder hatte begonnen.
Jenseits des Wäldchens loderte Flammenschein. Meseritz brannte. Ein stiller, verträumter, sauberer, glücklicher Ort, eine der vielen kleinen Städte, die zu Asche verfielen und von denen später niemand mehr sprechen würde.
»Ich kann nicht mehr …!« schrie der Mann, den man an den Armen durch den Schnee schleifte. Ein junges Gesicht hatte er, fast ein Kind war er noch. Die blonden Haare hingen ihm über die Augen, und am Hals lief ihm das Blut in den Kragen. »Laßt mich liegen! Lauft doch … ich kann nicht mehr!«
»Unsinn, Toni!« Die beiden blieben stehen. Auch der vor ihnen laufende Mann drehte um und kam zurück. Sie packten den Jungen, trugen ihn auf Armen und Beinen und rannten dann weiter, der Senke zu, dem Schneenebel, dem Leben …
Kurz vor dem Abhang erreichten sie den fünften Mann. Der Offiziersrock hing ihm zerfetzt über der Schulter, nur ein Schulterstück hatte er noch, aber es genügte, um ihn als Major auszuweisen.
»Was ist denn?« schrie der Major. »Wollt ihr euch abknallen lassen wie auf'm Schießstand! Los … runter ins Tal!«
»Der Toni ist ohnmächtig!« schrie jemand.
Der Major schwieg. Er lief zurück, packte das noch freie Bein des Verwundeten, und so hetzten sie weiter, eine dunkle, geballte, kleine Masse Mensch, umgeben von der Vernichtung, im Herzen die Angst vor dem Tod.
Und so traf sie auch die Granate aus einem der sowjetischen Panzer am Waldrand, bevor sie die rettende Senke erreichen konnten.
Neben ihnen schlug eine Riesenfaust in die Erde, wirbelte sie durch die Luft wie Papierschnitzel und ließ sie wie Eiszapfen zurück in den Schnee fallen.
Dort wurden sie wenige Minuten später von sowjetischen Sanitätern aufgesammelt, in das brennende Meseritz gebracht, verbunden, mit Tee erfrischt und nach drei Wochen weitertransportiert nach Sibirien.
»Wenn wir jemals wieder zurückkehren nach Deutschland«, sagte einer der fünf, als sie auf dem blanken, nassen Boden einer zerstörten Scheune lagen, bewacht von einem kalmückischen Soldaten, »wollen wir zusammenbleiben wie Brüder. Jeder soll dem anderen helfen.«
Sie gaben sich die Hände. Ein Schwur der aus der Hölle Entronnenen.
Meseritz an der Obra.
Am 21. Januar 1945.
Und sie kamen wieder zusammen.
1950 legten sie ihre Hände übereinander. Symbolisch, wie ein Berg der Treue.
Der Major a.D. Konrad Ritter.
Der Diplomingenieur Richard Erlanger.
Der Modeschöpfer Hermann Schreibert.
Der Ingenieur und Erfinder Alf Boltenstern.
Und der Architekt Toni Huilsmann. Der blonde Junge, den sie damals ins Leben schleppten.
In Düsseldorf war es.
Ihre Freundschaft war unauflöslich.
Gemeinsam eroberten sie das neue Deutschland. Gemeinsam hatten sie Erfolge, wurden reich, angesehene Bürger, vom Glück geküßte Wirtschaftswunderkinder. Ihr Leben wurde beneidenswert.
Bis zu jenem Tag, an dem eine neue Hölle vor ihnen aufriß, schrecklicher als bei Meseritz an der Obra.
Noch einmal ging Toni Huilsmann durch alle Räume. Er freute sich. Es ist eine besondere Gabe, sich noch freuen zu können, wenn man alles besitzt, was man sich wünschen kann, und Huilsmann gehörte zu den Glücklichen, der seine blauen Augen beim Erwerb eines handgetriebenen Zinnlöffels glänzen lassen konnte, als habe er einen Rembrandt erworben. Auch über das Erreichte freute er sich …
Die Villa Toni Huilsmanns lag am Stadtrand Düsseldorfs in einem alten, verwilderten Park, den er verwildern ließ, weil diese Wildnis zur besonderen Note des Hauses
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