Der Mann auf dem Balkon
verlangten die Ausweise. Vielen ging es mehrere Male so, vielleicht vier-, fünf oder sechsmal. Sie zogen von Ort zu Ort, nur, um sofort wieder von einem anderen Polizisten aufgejagt zu werden, der genauso übermüdet war wie sie selbst.
Im übrigen war es ruhig auf den Straßen. Nicht eine Prostituierte, nicht ein Schleichhändler wagte sich heraus. Vermutlich war ihnen nicht klar, daß die Polizei weniger Zeit denn je für sie hatte.
Am Mittwochmorgen gegen sieben Uhr verebbte die Razzia. Übernächtigte, hohläugige Polizisten schleppten sich nach Hause, um einige Stunden zu schlafen, andere fielen wie Steine auf Sofas und Holzbänke in den Wachstuben und Tagesräumen der verschiedenen Reviere.
Man hatte eine Menge Menschen in dieser Nacht aufgestöbert -selbst an den unwahrscheinlichsten Stellen -, aber keiner von ihnen hieß Ingemund Rudolf Fransson.
Um sieben Uhr befanden sich Kollberg und Martin Beck im Büro in der Kungsholmsgatan. Sie waren nun so müde, daß sie es schon nicht mehr spürten, sondern nur irgendwie anders atmeten.
Kollberg stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor der großen Wandkarte.
»Er war Gartenarbeiter«, sagte er, »angestellt beim Städtischen Gartenbauamt. Acht Jahre lang hat er in den städtischen Anlagen gearbeitet, er muß in dieser Zeit jede einzelne der Anlagen kennengelernt haben. Er hat das Stadtgebiet bisher kein einziges Mal verlassen. Er hält sich also an Gelände, das er kennt«
»Ob man sich darauf verlassen kann…« warf Martin Beck ein.
»Eines ist sicher: In dieser Nacht hat er nicht in einem Park geschlafen«, sagte Kollberg, »nicht in Stockholm.« Er machte eine lange Pause und schloß dann nachdenklich: »Falls wir nicht verdammtes Pech gehabt haben.«
»Genau das«, sagte Martin Beck. »Es gibt so ausgedehnte Gebiete, die man des Nachts kaum effektiv durchkämmen kann. Djurgärden, Gärdet, Lill-Jannsskogen… von den Außenbezirken ganz zu schweigen.«
»FKK-Gebiete«, meinte Kollberg. »Friedhöfe«, sagte Martin Beck.
»Friedhöfe, ja«, bestätigte Kollberg. »Die sind zwar abgeschlossen, aber…« Martin Beck sah auf die Uhr.
»Doch jetzt liegt wohl die Frage näher: Was macht er tagsüber?«
»Das ist ja das Unglaubliche«, sagte Kollberg. »Da geht er offenbar vor aller Augen in der Stadt spazieren.«
»Wir müssen ihn heute fassen«, erklärte Martin Beck. »Alles andere ist undenkbar.« Kollberg nickte schweigend.
Die Psychiater steuerten den Gesichtspunkt bei, daß Ingemund Fransson nur unbewußt versuche, sich zu verstecken oder sich außer Reichweite zu halten. Er befinde sich wahrscheinlich in einem Zustand von Bewußtseinstrübung, handele aber, ebenfalls unbewußt, intelligent und in automatischem Selbsterhaltungstrieb.
»Sehr aufschlußreich«, sagte Kollberg.
Etwas später traf Gunvald Larsson ein. Er hatte selbständig und nach eigener Methode gearbeitet.
»Wißt ihr, wieviel ich seit gestern abend gefahren bin?« fragte er. »Dreihundertvierzig Kilometer. In dieser verfluchten Stadt. Immer schön langsam. Ich glaube, wir jagen einen Geist.« »Das wäre eine Hypothese«, meinte Kollberg. Auch Melander hatte eine Hypothese.
»Die Systematik beunruhigt mich«, sagte er. »Dieser Mann begeht einen Mord und fast unmittelbar danach den nächsten, dann folgt eine Pause von acht Tagen, dann ein neuer Mord und nun…«
Alle hatten sie Hypothesen.
Die Öffentlichkeit war hysterisch und der Panik nahe und die Polizei erschöpft und ausgelaugt.
Die Dienstbesprechung am Mittwoch vormittag war gekennzeichnet von Optimismus und Vertröstungen. Äußerlich. Innerlich fürch-teten alle das gleiche.
»Wir müssen mehr Leute haben«, erklärte Hammar. »Zieht alle Leute heran, auch aus den angrenzenden Bezirken, die irgendwie entbehrlich sind. Viele werden sich freiwillig zur Verfügung stellen.«
Und Leute in Zivil - das war das immer wiederkehrende Thema. Polizei in Zivil an gefährdeten Stellen. Jeder, der einen Trainungsan-zug oder einen blauen Overall hatte, sollte raus in die Büsche.
»Wir müßten recht viele uniformierte Streifen haben«, sagte Mar-tin Beck, »um die Öffentlichkeit zu beruhigen, um ein Gefühl der Si-cherheit zu vermitteln.«
Er überdachte, was er eben gesagt hatte, und ihn überkam ein bit-teres Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht.
»Legitimierungszwang in allen Spirituosengeschäften«, ordnete Hammar an.
Das war eine gute Idee, aber auch sie führte zu keinem Ergebnis. Nichts schien
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