Der Mann auf dem Balkon
INGEMUND RUDOLF, Växjö Krb 5/2-26, Gartenarbeiter, Västberg. 22, Malmö.
Martin Beck blätterte den Wehrpaß weiter durch. Aus ihm erfuhr man ein wenig über das, was Ingemund Rudolf Fransson bis zum Jahre 1947 getan hatte. Er war in Smäland geboren und einundvierzig Jahre alt. 1946 hatte er als Gartenarbeiter im Malmö gearbeitet und hatte dort in der Västergatan gewohnt. Im gleichen Jahr war er eingezogen worden, hatte der Tauglichkeitsgruppe 4 angehört, was gleichbedeutend war mit Soldat im Innendienst, und zwölf Monate lang im dortigen Luftwaffenregiment gedient. Beim Abmustern 1947 hatte ihm jemand mit unleserlichem Namenszug die Beurteilung X-5-5 gegeben, was unter dem Durchschnitt lag. Die römische Ziffer stand vor der Beurteilung. Das bedeutete, das er sich keiner disziplinarischen Vergehen schuldig gemacht hatte. Die beiden Fünfen deuteten an, daß man ihn nicht mehr einziehen würde, nicht einmal zum Innendienst. Der Offizier mit dem unleserlichen Namenszug hatte ihm den lakonischen Verwendungscode Kchpers. gegeben, was wahrscheinlich besagte, daß er sich während seines Wehrdienstes durch einen Berg von Kartoffeln hindurchgeschält hatte.
Im übrigen brachte ihre schnelle und oberflächliche Untersuchung keine Aufklärung über Ingemund Franssons derzeitige Tätigkeit oder über sein Leben während der letzten zwanzig Jahre.
»Die Post«, sagte Kollberg und ging hinaus in den Flur.
Martin Beck nickte, trat an das Bett und betrachtete es. Das Laken war zerknüllt und schmutzig und das Kissen zerknautscht. Außerdem sah es nicht so aus, als hätte in den letzten Nächten jemand darin gelegen.
Kollberg kam ins Zimmer zurück. »Nur Zeitungen und Reklamedrucksachen«, sagte er. »Welches Datum hat die Zeitung da?«
Martin Beck legte den Kopf schräg, kniff ein Auge zu und sagte: »Donnerstag, 8. Juni.«
»Eben. Sie kam einen Tag später hier an. Er hat seit Sonnabend, dem 10., keine Post angerührt. Nicht nach dem Mord in Vanadislunden.«
»Dennoch scheint er am Montag zu Hause gewesen zu sein.« »Ja«, stimmte Kollberg zu und fuhr dann fort: »Aber danach wohl nicht mehr.«
Martin Beck streckte den rechten Arm aus, ergriff mit Daumen und Zeigefinger eine Ecke des Kopfkissenbezuges und hob das Kissen an. Darunter lagen zwei weiße Kinderschlüpfer.
Sie sahen sehr klein aus.
Voller Flecken in den verschiedensten Schattierungen.
Die beiden Männer standen vielleicht zwanzig Sekunden lang völlig reglos in dem muffigen, kleinen Zimmer, nur der Verkehrslärm und ihre eigenen Atemzüge waren hörbar. Dann stellte Martin Beck schnell und sachlich fest: »Okay, die Sache ist klar. Wir versiegeln die Wohnung und schließen ab. Benachrichtige das Labor.«
»Schade, daß hier kein Bild von ihm ist«, sagte Kollberg.
Martin Beck dachte an den noch nicht identifizierten Toten aus dem zum Abbruch bestimmten Haus in der Västmannagatan. Möglich war es, aber keineswegs sicher.
Nicht einmal wahrscheinlich. Sie wußten noch immer zu wenig über den Mann, der Ingemund Fransson hieß.
Drei Stunden später, um vierzehn Uhr, am Dienstag, dem 20. Juni, wußten sie erheblich mehr.
Unter anderem, daß der Tote aus der Västmannagatan nicht mit Ingemund Fransson identisch war. Mehrere Zeugen hatten es angewidert bestätigt.
Die Polizei hatte endlich ein Ende des Fadens fest in der Hand, und die wohlgeschmierte Ermittlungsmaschinerie entwirrte das verhältnismäßig einfache Knäuel um Ingemund Fransson. Man hatte bereits mit einigen hundert Personen Kontakt aufgenommen. Nachbarn, Geschäftsleuten, Angestellten der Sozialbehörde, Ärzten, Militärangehörigen, Priestern, Mitgliedern der Antialkoholikerliga und vielen anderen. Das Bild klärte sich schnell.
Ingemund Fransson war 1943 nach Malmö gezogen und dort von der städtischen Parkverwaltung angestellt worden. Der Umzug hing anscheinend mit dem Tod des Vaters zusammen. Sein Vater, ungelernter Arbeiter in Växjö, war im Frühjahr gestorben. Seine Mutter war damals bereits seit fünf Jahren tot. Andere Verwandte hatte er nicht. Gleich nach dem Wehrdienst war er nach Stockholm gezogen. Seit 1948 hatte er im Sveavägen gewohnt und von 1948 bis 1956 eine Anstellung als Gartenarbeiter gehabt. Dann gab er die Stellung auf, zunächst von einem privaten Arzt arbeitsunfähig geschrieben. Im Laufe der Zeit wurde er von verschiedenen Psychiatern im Auftrag der Sozialbehörde untersucht und dann zwei Jahre später endgültig als arbeitsuntauglich vorzeitig
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