Der Mann auf dem Balkon
berentet. Das offizielle Gutachten enthielt die etwas geheimnisvolle Formulierung: »psychisches Unvermögen zu physischer Arbeit«.
Es besagte weiter, daß er überdurchschnittlich begabt sei, aber unter einer Art chronischer Arbeitsunlust leide, die es ihm unmöglich mache, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Versuche einer Umschulung waren mißglückt. Sollte er in einer Werkstatt arbeiten, ging er vier Wochen lang jeden Morgen zum Fabriktor, konnte es aber nicht über sich bringen, hineinzugehen. Der Psychiater schrieb, daß diese Art Arbeitsunlust selten, aber durchaus nicht einmalig wäre. Fransson sei in keiner Weise geisteskrank oder pflegebedürftig. Sein Verstand sei in Ordnung, und er habe keinerlei körperliche Defekte. (Vom Militärarzt war er wegen seiner Plattfüße so niedrig eingestuft worden.)
Aber er war ein ausgesprägter Einzelgänger, war kontaktarm, hatte keine Freunde und keine Interessen, abgesehen von dem, was die Ärzte »ein waches Interesse für seine smäländische Heimat« nannten. Er war von ruhigem und freundlichem Wesen, trank keine harten Spirituosen, war sehr sparsam und konnte als ordentlich bezeichnet werden, obwohl er »wenig Interesse für sein Äußeres« zeigte. Er rauchte.
Sexuelle Störungen waren nicht beobachtet worden. Fransson hatte die Frage, ob er onaniere, stockend verneint, der Arzt nahm aber an, daß er es tue, obwohl sein Sexualtrieb auf alle Fälle sehr unterentwickelt sei. Er litt an Agoraphobie.
Die meisten dieser Angaben stammten aus Ärztegutachten der Jahre 1957 und 1958. Seither hatte sich keine Behörde anders als routinemäßig mit Fransson befassen müssen. Er bekam seine Volksrente und lebte zurückgezogen. Seit Beginn der fünfziger Jahre hatte er die Smälands-Posten abonniert.
»Was ist Agoraphobie?« wollte Gunvald Larsson wissen.
»Platzangst«, erklärte Melander.
In der Ermittlungszentrale herrschte große Geschäftigkeit. Der Einsatz lief auf vollen Touren. Die meisten hatten ihre Müdigkeit vergessen; sie war weggewischt worden von der Hoffnung auf eine schnelle Lösung.
Draußen wurde es langsam kälter. Es hatte zu nieseln begonnen.
Die Berichte strömten herein. Noch hatte man keine Fotografie, wohl aber eine perfekte Personenbeschreibung, in den Details vervollständigt durch Ärzte, Nachbarn, alte Arbeitskameraden und durch Angestellte in den Geschäften, in denen er eingekauft hatte.
Fransson war einsvierundsiebzig groß, wog ungefähr 75kg und hatte tatsächlich Schuhgröße 40.
Die Nachbarn schilderten ihn als wortkargen, aber netten und freundlichen Mann, der mit smäländischem Tonfall sprach und stets höflich grüßte. Er wirkte vertrauenerweckend. Niemand hatte ihn in den letzten acht Tagen gesehen.
Die Leute im Labor hatten in der Wohnung am Sveavägen alles Wesentliche gesichert. Fransson mußte als zweifacher Mörder angesehen werden. Auf dem schwarzen Schuh in der Besenkammer hatte man tatsächlich Blut gefunden.
»Mehr als zehn Jahre lang hat es in ihm gesessen und ihn bedrückt«, sagte Kollberg.
»Und nun hat er einen Knacks bekommen und läuft herum und begeht Lustmorde an kleinen Mädchen«, fügte Gunvald Larsson hinzu.
Ein Telefon klingelte. Rönn ging an den Apparat.
Martin Beck wanderte hin und her, biß sich auf die Fingerknöchel und resümierte: »Wir wissen also praktisch genommen alles über ihn, was wissenswert ist. Wir haben alles außer seiner Fotografie. Und die findet sich wohl auch noch. Das einzige, was wir nicht wissen, ist, wo er sich zur Zeit aufhält.«
»Ich weiß, wo er vor genau einer Viertelstunde war«, sagte Rönn. »Es liegt ein totes Kind im Sankt Eriksparken.«
28 Der Sankt Eriksparken ist eine der kleinsten Parkanlagen Stock-holms. Sie wirkt so unbedeutend, daß die meisten Stockholmer sie nicht einmal kennen. Dieser Park wird nur wenig besucht, und niemand war auf den Gedanken gekommen, ihn zu bewachen.
Er liegt im Norden und bildet sozusagen den Abschluß der langgestreckten Västmannagatan. Eine kleine Hügelkuppe mit Gebüsch, Kieswegen und Treppen, mit steilem Abhang hinunter zu den umgebenden Straßen. In der Nähe viele Schulen, die im Sommer natürlich geschlossen sind.
Die Leiche war im nordwestlichen Teil des Parks gefunden worden. Sie lag gut sichtbar am Rand der Klippen. Dies bestätigte in makabrer Weise die Theorie, daß die Morde nun immer scheußlicher würden. Der Mann, der Ingemund Fransson hieß, hatte es diesmal sehr eilig gehabt. Er hatte den Kopf des
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