Der Mann aus dem Safe
ehrlich kein Wort zu mir sagen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nicht mal einen kleinen Laut?«
Ich schluckte schwer.
»Ist schon gut«, sagte sie. »Ist gut. Ich finde, das macht dich nur noch erstaunlicher.«
Wir schwiegen einen Moment. Die Taschenlampe lag nun auf dem Bett, und der Strahl wurde von der Wand reflektiert und tauchte uns in ein gedämpftes Licht. Amelias Gesicht war halb hinter ihren Haaren verborgen. Sie rutschte wieder näher an mich heran, und ich küsste sie, ganz langsam diesmal. Wie sie schmeckte. Wie sie roch. Es geschah wirklich. Sie zog mich zu sich herunter, worauf mir ein Dutzend Gedanken durch den Kopf wirbelten. Was jetzt passieren könnte. Was jetzt passieren
würde,
falls nicht einer von uns beiden einen Rückzieher machte.
Dann hörten wir ein Geräusch. Schritte im Flur, gleich darauf das Quietschen einer Tür. Amelia legte einen Finger an die Lippen, bevor sie merkte, wie überflüssig das war. »Warte kurz«, flüsterte sie. »Das ist mein Vater.«
Wir hörten die Toilettenspülung, dann wieder Schritte, als Mr. Marsh zurück in sein Schlafzimmer ging. Ich fragte mich unwillkürlich, was er wohl mit mir gemacht hätte, wenn er ein bisschen früher aufgewacht wäre und mich ertappt hätte, wie ich durch sein Haus schlich. Ich fragte mich außerdem, in was für ein Gefängnis man mich stecken würde und ob man dem Rechnung tragen würde, dass ich in dieser Nacht zum Krüppel geschlagen worden war und nun im Rollstuhl saß.
Wir warteten noch ein paar Minuten und hofften, dass er wieder eingeschlafen war. Mittlerweile schien der Zauber halb gebrochen zu sein. Ich überlegte, ob es das war. Für heute Nacht zumindest.
Da stand sie auf und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Ihre Haut schimmerte in dem blassen Licht vom Fenster. Ich schluckte und streckte die Arme nach ihr aus. Fuhr mit den Fingern ihr Schlüsselbein nach. Sie nahm meine Hände und legte sie auf ihre Brüste. Sie schloss die Augen.
Sie griff nach meinem Shirt. Wir zogen es zusammen aus. Dann meine Hose. Dann meine Unterhose. Sie streifte ihre Shorts ab und kickte sie weg.
Sie nahm meine Hand und führte mich wieder zum Bett.
»Das ist doch verrückt«, sagte sie. »Du brauchst dich nicht mehr mitten in der Nacht heimlich in mein Zimmer zu schleichen. Auch wenn ich pervers genug bin, das toll zu finden.«
Sie zog mich auf die Beine. Wir standen eng umschlungen dort mitten in ihrem Zimmer, das so dunkel war mit dem schwarzgestrichenen Holzfußboden, dass wir im Weltraum zu schweben schienen.
»Mein Sommer ist gerade deutlich spannender geworden«, sagte sie schließlich. »Wirst du weiter für mich zeichnen?«
Ich nickte.
»Okay, dann mache ich auch weiter. Jetzt bin ich wohl wieder dran.«
Sie küsste mich noch einmal, dann ließ sie mich los. Sie ging zur Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und lugte hinaus.
»Die Luft ist rein«, sagte sie, »aber sei vorsichtig.«
Ich schlüpfte an ihr vorbei und trat auf den dicken Teppichboden, als käme ich zurück auf die Erde. Als ich halb die Treppe herunter war, hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich erstarrte und rechnete mit Mr. Marsh. Hoffte inständig, dass er keine Waffe im Haus hatte. Beim Umdrehen sah ich Amelia zu mir herunterblicken. Sie lächelte und zog die Augenbraue ein wenig hoch. Dann winkte sie gute Nacht und machte die Tür hinter sich zu.
Von einer Sommernacht … auf den nächsten Morgen. Wie schnell die eigene Welt manchmal auf den Kopf gestellt wird. Was würde ich dafür geben, alles hier anhalten zu können, bei diesen wenigen Stunden in Amelias Zimmer. Meine Geschichte mit etwas Erfreulichem abschließen. Das Buch zuklappen. Ende.
Aber nein.
Das ist das eine, was man im Gefängnis lernt. Man kann die Augen zumachen und seinen Wunschträumen nachhängen, sich vorstellen, wie es wohl wäre. Dann wacht man auf, und alles ist sofort wieder da. Die Isolation und die verschlossenen Türen und die erdrückende Last der Mauern um einen herum. Es ist alles wieder da, schlimmer denn je.
Also sollte man vielleicht lieber gar nicht träumen, wenn man an so einem Ort ist. Zumindest nicht solche Träume. Träum solche Träume nicht, es sei denn, du hast vor, nicht mehr aufzuwachen.
So fuhr ich also nach Hause in dieser Nacht. An Schlaf war natürlich nicht zu denken. Ich roch immer noch ihren Duft an mir, spürte noch ihre Lippen auf meinem Mund. Dort allein in der Dunkelheit meines Zimmers, während mein Herz so schnell schlug
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