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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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hinter dem Vorhang im ersten Stock bewegten. Und schon war der Bahnhof in Sichtweite, wo der letzte Zug fünf Minuten nach Mitternacht abfahren würde. Und ehe man an den Bahnhof kam, gab es auf der rechten Seite noch das Kleine Sankt Georg, das für ihn, wenn auch weniger verlockend, ungefähr dasselbe darstellte wie das Haus, an dem er soeben vorbeigekommen war.
      Ehemals, zur Zeit der Postkutschen, hatte eine Herberge Zum Großen Sankt Georg existiert, und nicht weit davon hatte sich eine Schenke mit dem Schild Kleiner Sankt Georg aufgetan.
      Nur diese Schenke hatte überdauert, im Souterrain, die Fenster zu ebener Erde, übrigens fast immer leer und nur zu später Stunde, wenn die anderen Lokale geschlossen hatten, von deutschen oder englischen Seeleuten besucht.
      Popinga warf unwillkürlich immer einen Blick hinein, obwohl es dort nichts Besonderes zu sehen gab: Tische aus altersdunklem Eichenholz, Hocker und im Hintergrund eine Theke, hinter der ein enorm dicker Wirt stand, den ein Kropf hinderte, sich einen Kragen umzubinden.
      Warum nur machte das Kleine Sankt Georg den Eindruck eines anrüchigen Lokals? Weil es bis zwei oder drei Uhr morgens geöffnet war? Weil die Zahl der Genever- und Whisky-Flaschen auf dem Bord größer war als überall sonst? Weil das Lokal im Untergeschoß lag?
      Diesmal, wie auch sonst immer, warf Kees einen Blick hinein, und im nächsten Moment drückte er die Nase an die Scheibe, um besser zu sehen, um sicher zu sein, daß er sich nicht täuschte, oder vielmehr, um sich zu überreden, daß er einer Täuschung erlegen war.
    In Groningen gibt es zwei Kategorien von Cafés: die einen, verlof genannt, wo nur harmlose Getränke serviert werden, und die anderen, die vergunning Cafés, in denen auch Alkohol ausgeschenkt wird.
      Nun hätte aber Kees es für entehrend gehalten, seinen Fuß in ein vergunning -Café zu setzen. Hatte er nicht sogar aufs Billardspielen verzichtet, weil die Billardtische im Hinterzimmer eines solchen Lokals standen?
      Das Kleine Sankt Georg war das vergunningste aller vergunnings. Und dennoch saß da in dem Kellerlokal ein Mann und trank, ein Mann, der kein anderer sein konnte als Herr Julius de Coster junior persönlich!
      Wenn Kees augenblicks in den Schachclub gestürzt wäre und Dr. Claes oder irgend jemandem sonst verkündet hätte, er habe Julius de Coster im Kleinen Sankt Georg gesehen, so hätte man ihn nur mitleidig angeblickt und ihm geraten, seine Zunge zu hüten.
      Es gibt Leute, auf deren Rechnung man sich schon mal einen Scherz erlauben kann. Aber Julius de Coster…
      Schon allein sein eisgrauer Kinnbart war der gepflegteste von ganz Groningen. Und erst sein vornehmer Gang! Und sein schwarzer Anzug! Und sein Hut, ein Mittelding zwischen Melone und Zylinder…
      Nein! Es war unmöglich, daß Julius de Coster sich je seinen Kinnbart hätte abrasieren lassen! Und ebenso unwahrscheinlich, daß er sich in einen schlechtsitzenden, kastanienbraunen Sakko geworfen hätte!
      Und nun gar dort an einem Tisch im Kleinen Sankt Georg zu sitzen, vor sich ein dickwandiges Glas, das nichts anderes als Genever enthalten konnte…
      Es geschah indessen, daß der Mann zum Fenster hinsah und, nun seinerseits überrascht, ein wenig den Kopf reckte, um Popinga mit plattgedrückter Nase hinter der Scheibe zu erkennen.
    Und was ganz und gar unerhört war: er machte eine kleine Handbewegung, wie um zu sagen:
    »Kommen Sie doch herein!«
      Und Kees trat ein, völlig gebannt, wie es von Tieren heißt, die vom Blick der Schlange gebannt sind. Er trat ein, und der Schankwirt, der hinter der Bar Gläser abtrocknete, rief ihm zu:
      »Sie können wohl nicht die Tür zumachen wie jeder anständige Mensch?«

    Er war es, Julius de Coster! Er nötigte Kees auf einen Hocker und sagte leise:
    »Jede Wette, daß Sie auf dem Schiff waren?«
      Dann, ohne eine Antwort abzuwarten, brauchte er einen Ausdruck, den man noch nie aus seinem Munde gehört hatte:
    »Die platzen wohl vor Wut?«
    Dann, ohne jeden Übergang:
      »Im Ernst, Sie müssen spioniert haben, um zu wissen, daß ich hier bin!«
      Am meisten verwirrte es Kees, daß er sich nicht entrüstete, daß er das ohne Groll, ja sogar amüsiert und lächelnd sagte. Er machte dem Wirt ein Zeichen, die Gläser neu zu füllen, besann sich dann im letzten Augenblick und zog es vor, die Flasche auf dem Tisch zu behalten.
    »Hören Sie, Herr de Coster, heute abend…«
    »Trinken Sie zuerst

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