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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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nicht zum Lachen, daß man ihn im Irrenhaus um seine Meinung fragte? Es wurde zur Gewohnheit, ihn zu allem und jedem nach seiner Meinung zu fragen, zu ganz unwichtigen Kleinigkeiten, wie damals in Groningen, als in der Familie lang und breit über solche Sachen geredet wurde.
      »Ich denke manchmal, wenn wir eine kleine Wohnung mit einer Küche hätten… Natürlich würde das mehr Miete kosten, aber andererseits…«
      Gewiß! Gewiß! Er pflichtete immer bei. Er tat sein Körnchen Salz hinzu. Und Mama war mehr Mama als je zuvor, wenn sie auch jetzt, anstatt farbige Bildchen bei sich zu Hause zu kleben, Gott weiß was bei de Jonghe klebte.
    »Sie geben mir die Biskuits mit fünfzig Prozent…«
    »Großartig, nicht wahr?«
      Wenn schon kein Mensch ihn hätte verstehen können – war dann nicht alles ganz gut so?
      Er war so fügsam, daß man ihm erlaubte, täglich zwei oder drei Stunden mit zwei Verrückten zu verbringen, von denen der eine immer erst bei Anbruch der Nacht zu toben begann, während der andere der vernünftigste Mensch der Welt war, solange man ihm nicht widersprach.
      »Vorsicht, Kees!« hatte der Doktor ihm gesagt. »Der kleinste Krawall bedeutet wieder Einsamkeit.«
      Warum hätte er diesen armen Menschen widersprechen sollen? Er ließ sie reden. Und dann, wenn sie ausgeredet hatten, fiel es ihm manchmal ein zu sagen:
    »Und ich, als ich in Paris war…«
    Aber er hielt schnell wieder inne:
      »Sie können das nicht verstehen! Ist ja auch ganz unwichtig. Nur, wenn Sie wenigstens Schach spielen könnten!«
    Er verfertigte ein Schachspiel aus Papier, aus den Seiten der Kladde, um ganz für sich allein zu spielen. Nicht, daß er sich langweilte, er langweilte sich nie, sondern vielmehr aus einer Art von Sentimentalität in bezug auf die Vergangenheit.
      Was konnte ihm die jetzt schon anhaben? Er geriet nicht einmal mehr in Wut, wenn er an Kommissar Lucas dachte. Er sah ihn wieder vor sich, wie er sich um ihn bemühte, ihn befragte und abtastete, und er wußte, daß allein er, Popinga, die Partie gewonnen hatte. Also?
      Nein! Er war nicht der Mann, seinen Kameraden zu widersprechen, auch nicht Mama, die sich überhaupt nicht verändert hatte, noch irgend jemandem sonst. Er brachte es dahin, nicht einmal mehr auf die Zeit zu achten, die verrann. Und das ging so weit, daß er nur noch lächeln konnte, als Mama ihm eines Tages verkündete:
      »Ich bin schön in Verlegenheit… Ich weiß nicht, was ich machen soll… Der Neffe von den de Jonghe hat sich in Frida verliebt und…«
      An ihrer Aufregung erkannte er, daß sie aus einer anderen Welt kam, daß sie nicht die Erfahrung von Kees Popinga besaß. Sie machte eine Staatsaffäre daraus! Man hätte meinen können, das Schicksal der Welt hinge davon ab.
    »Wie ist er denn?«
      »Nicht übel… Sehr gut erzogen… Vielleicht nicht besonders kräftig. Er mußte als Kind eine Zeitlang in die Schweiz.«
    Das war lustig! Das war richtig ausgedrückt!
    »Und Frida, liebt sie ihn?«
      »Sie hat gesagt, wenn sie nicht ihn bekommt, heiratet sie nie.«
      Die berühmte Frida mit den verträumten Augen! Nur los! Das Leben war immer noch amüsant.
    »Sag ihnen, sie sollen heiraten.«
    »Ja, aber die Eltern des jungen Mannes…«
    Zögerten, natürlich, ihren Sohn die Tochter eines
    Verrückten heiraten zu lassen!
      Sollten die nur ihre Pläne schmieden! Mehr konnte er in der Sache nicht tun. In einem anderen Punkt ging er allerdings etwas zu weit, als eines Tages der Doktor ihn über ein Schachproblem gebeugt sah, länger als eine Viertelstunde hinter ihm stehenblieb, um die Lösung abzuwarten, und dann leise sagte:
      »Vielleicht möchten Sie, daß wir von Zeit zu Zeit eine Partie spielen, zur Teestunde? Ich sehe, Sie kennen sich aus!«
    »Ist doch ganz einfach, nicht wahr?«
      Doch als er dann dem Doktor gegenübersaß vor einem richtigen Schachspiel mit Figuren aus Ebenholz und anderen aus hellem Holz, konnte er der Lust an einem Schabernack nicht widerstehen.
      Es war nicht im Schachclub von Groningen und auch nicht am Boulevard Saint-Michel in Paris. Auf dem Tisch standen nur zwei Tassen mit Tee, und dennoch konnte Popinga, als er einen Läufer in bedrohlicher Stellung sah, nicht umhin, ihn, während er gleichzeitig eine andere Figur bewegte, in seiner Teetasse verschwinden zu lassen – ganz so, wie er es damals mit dem dunklen Bier gemacht hatte.
      Der Doktor war einen Augenblick lang verwirrt, sah die

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