Der Mann, der den Zügen nachsah
Provinzgouverneurs, und niemand würde sich erlaubt haben, sie mit einer geschäftlichen Angelegenheit zu behelligen.
Endlich tat sich die Tür auf. Popinga wartete lange am Fuß einer Marmortreppe neben einer Topfpalme; dann bedeutete man ihm hinaufzugehen, und in einem Zimmer bei gedämpftem orangefarbenen Licht fand er sich einer Frau in seidenem Neglige gegenüber, die aus einer langen Zigarettenspitze aus Jade rauchte.
»Was wünschen Sie? Mein Mann ist frühzeitig gegangen, um eine dringende Sache im Büro zu erledigen. Warum haben Sie sich nicht dorthin gewandt?«
Nie würde er den seidenen Hausmantel vergessen, noch die braunen Haare, die im Nacken geflochten waren, noch die sublime Unnahbarkeit dieser Frau, vor der er sich, irgend etwas stammelnd, zurückzog.
Eine halbe Stunde später war keine Hoffnung mehr auf die Ausfahrt der ›Ozean III‹. Kees war ins Büro zurückgegangen in dem Gedanken, sein Weg könne sich mit dem seines Chefs gekreuzt haben. Dann auf einer belebteren Straße, wo die Geschäfte wegen des bevorstehenden Weihnachtsfestes noch offen waren, hatte ihn jemand mit Händedruck begrüßt.
»Popinga!«
»Claes!«
Es war Dr. Claes, ein Kinderarzt, der mit ihm im selben Schachclub war.
»Sie kommen nicht zum Turnier heute abend? Es scheint, daß der Pole verlieren wird…«
Nein, er würde nicht hingehen. Außerdem war sein
Schachabend dienstags, und heute war Mittwoch. Von dem Lauf durch die Kälte war sein Gesicht gerötet und sein Atem dampfte.
»Übrigens«, fuhr Claes fort, »Arthur Merkemans hat mich vorhin besucht…«
»Da hätte er sich lieber ein bißchen schämen sollen!«
»Das habe ich ihm auch gesagt…«
Und damit ging Dr. Claes in seinen Club, während Popinga von einem weiteren Ärgernis bedrückt war. Warum mußte man ihm ausgerechnet von seinem Schwager sprechen? Gab es nicht in allen Familien ein mehr oder minder peinliches Element?
Merkemans hatte übrigens nichts Schlimmes verbrochen. Höchstens konnte man ihm vorwerfen, acht Kinder zu haben, aber zu der Zeit hatte er noch eine leidlich gute Stellung in einem Kaufhaus. Eines Tages hatte er sie verloren. Er war lange stellungslos geblieben, weil er zu anspruchsvoll war, und dann hatte er im Gegenteil jede beliebige Arbeit angenommen, und so war es mit ihm immer weiter bergab gegangen.
Jetzt kannte ihn jedermann, weil er die Leute anzupumpen pflegte, indem er sein Elend schilderte und von seinen acht Kindern sprach.
Das war peinlich. Plötzlich spürte Popinga einen Druck auf dem Magen und er dachte vorwurfsvoll an seinen Schwager, der sich so gehen ließ und dessen Frau jetzt ohne Hut ihre Einkäufe besorgen mußte.
Pech für ihn! Er kaufte sich in einem Laden noch eine Zigarre und beschloß, über den Bahnhof zurückzugehen, was nicht weiter war als der Weg am Kanal entlang. Er wußte, daß er nicht umhin könnte, seiner Frau zu sagen:
»Dein Bruder hat bei Dr. Claes vorgesprochen.«
Sie würde verstehen. Würde statt einer Antwort nur seufzen. So war es noch jedesmal!
Inzwischen ging er an der Kirche Sankt Christoph vorbei
und wandte sich nach links in eine stille Straße mit Schneewällen längs der Bürgersteige und schweren Haustüren mit Türklopfern. Er wollte schon an Weihnachten denken, aber das lohnte sich nicht, denn bei der dritten Gaslaterne wußte er, daß ihm andere Gedanken kommen würden.
Oh! Keine schlimmen Gedanken! Nur eine momentane Verwirrung jedesmal, wenn er nach seiner wöchentlichen Schachpartie hier vorbeikam…
Groningen ist eine gesittete Stadt, wo man, im Gegensatz zu Städten wie Amsterdam, nicht Gefahr läuft, von losen Frauenzimmern angesprochen zu werden.
Immerhin gibt es etwa hundert Meter vom Bahnhof entfernt ein Haus von bürgerlich behäbigem Anstrich, dessen Tür sich beim leisesten Klopfen auftut.
Kees hatte nie den Fuß dort hinein gesetzt. Er hatte nur im Schachclub davon reden hören. So oder so hatte er es noch immer fertiggebracht, seiner Frau nicht untreu zu werden.
Nur wenn er am Abend dort vorbeiging, stellte er sich immer allerlei vor, und diesmal war er um so mehr dazu angeregt, weil er soeben Frau de Coster in ihrem Neglige gesehen hatte. Sonst hatte er sie immer nur von ferne gesehen, städtisch gekleidet. Er wußte, daß sie erst fünfunddreißig, Julius de Coster hingegen schon sechzig war.
Er ging vorbei. Er verhielt nur einen Moment, als er sah, wie sich zwei Schatten
Weitere Kostenlose Bücher