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Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
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anderen. Er stellte die Ordnung wieder her und brachte die wenigen italienischen Maschinisten, die von ihren Vorgesetzten zurückgelassen worden waren, an ihre Stationen zurück. Mit Hilfe eines alliierten Unteroffiziers bewegte er die Gefangenen, sich ruhig zu verhalten und an Bord zu bleiben. Er sagte ihnen, das Schiff könne sie möglicherweise retten, wenn sie zusammenarbeiteten; die See sei jetzt ihr größter Feind. Er befahl sämtliche Männer ins Heck des Schiffes, weil ihr Gewicht helfen würde, die Belastung des vorderen Schotts – wenn auch nur ein wenig – zu verringern; davon hinge ihr Leben ab. Er ließ Verbandplätze einrichten, wo die Verletzten versorgt werden sollten, und brachte die Maschinen wieder in Gang, die allerdings nur sehr kleine Fahrt machen konnten. Ich konnte kaum glauben, was ich hörte. Es war eine faszinierende Geschichte, und ich hätte sie zu gerne selbst erlebt.
    Zu diesem Zeitpunkt schwamm ich schon ungefähr zwanzig Minuten im Meer und war weit abgetrieben worden. Den voll Wasser gelaufenen Schiffsbug benutzte der geheimnisvolle Deutsche als Bremse, um das Schiff nach achtern zu lenken, und langsam näherte es sich der Küste. Mehrere Stunden später setzte er es mit stählernem Knirschen auf den felsigen Strand. Dieser deutsche Seemann, der die Feindschaft beiseitegestellt hatte, um so viele Menschen zu retten wie möglich, wurde von den Alliierten bejubelt.
    Die Rettungsboote mit dem Kapitän und der Besatzung näherten sich ebenfalls langsam dem Land. Als sie an die Küste kamen, sahen sie das angeschlagene Schiff, das landwärts trieb, ohne zu sinken. Wäre das Schiff untergegangen, wäre dem Kapitän kaum ein Vorwurf gemacht worden, dass er die Kriegsgefangenen geopfert hatte, um sich zu retten. So aber war er fertig, und das muss ihm klar gewesen sein. Er wurde verhaftet, heißt es, vor ein Kriegsgericht gestellt und für seine verfrühte Entscheidung, das Schiff aufzugeben, hingerichtet.
    Mit dem Deutschen, der genauso rasch verschwand, wie er aufgetaucht war, verhielt es sich ganz anders. Vermutlich hatte es sich um einen Schiffsingenieur oder Maschinisten gehandelt. Seine Rücksichtnahme gegenüber den verletzten Gefangenen wurde nie vergessen, und die, die ihm begegnet sind, bezeichneten ihn als einen Mann von großem Mut und tiefer Menschlichkeit, der Hunderten von Alliierten das Leben gerettet hat, obwohl er ein Feind war. Bei dem Versuch, vom gestrandeten Schiff an Land zu gelangen, kamen allerdings mehrere alliierte Soldaten um.
    Ich weiß nichts darüber, weil ich eine Zeitlang auf der Flucht war, ehe ich erneut gefangen genommen wurde, und ich bin nie einem anderen Überlebenden begegnet, obwohl einige von ihnen ebenfalls auf dem »Ruhr-Acker« gewesen sind, wie sich herausstellte.
    Ich hörte mir an, was Rob mir erzählte, hatte aber noch immer Schwierigkeiten mit meinem Gedächtnis. Die Geschichte war fantastisch. Natürlich kann nach so langer Zeit nichts mehr als sicher gelten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich um ein anderes Schiff als die Sebastiano Venier gehandelt hat. Ich war überwältigt. Für mich war es ein furchtbares Erlebnis gewesen, doch wie so vieles stand es im Schatten dessen, was darauf folgte. Zu erfahren, dass so viele Männer die Katastrophe überlebt hatten, war eine Erleichterung. Fast siebzig Jahre lang hatte ich mich für den einzigen Überlebenden gehalten. Und dann fiel bei mir der Groschen.
    »Ich hätte gar nicht ins Meer springen müssen.«
    »So sieht’s aus«, erwiderte Rob.
    »Na, da war ich ja wirklich ein blöder Heini«, sagte ich.

23. Kapitel
     
     
    15. November 2010
     
    D er Morgen begann feucht und grau, doch als ich am Vormittag aus dem Fenster blickte, sah ich, dass die Wolkendecke sich gehoben und unterhalb des Win Hill, der Hügelkuppe auf der anderen Seite des Tales, Nebelflecke hinterlassen hatte. Win Hill, so besagt die Legende, hat seinen Namen von dem siegreichen Heer in einer Schlacht, die in grauer Vorzeit stattfand. Das geschlagene Heer hatte sich auf einer anderen Kuppe in der Nähe postiert, der heute als Lose Hill bekannt ist. Doch nicht alles im Peak District ist derart polarisiert. Nachdem ich nun den Dialekt gemeistert habe, ist es ein freundliches Fleckchen Erde. Nimmt man hinzu, dass ich hier ein warmes Bett habe und drei gute Mahlzeiten am Tag bekomme, kann man wohl behaupten, dass ich es endlich geschafft habe.
    Rob kam ein bisschen spät. Die Sonne brannte bereits die Wolken

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