Der Mann, der ins KZ einbrach
Minuten überzogen, was für meine Verhältnisse gar nicht übel ist. Jetzt, wo ich darüber reden kann, habe ich jedes Mal das Gefühl, ich müsste die Geschichte von vorne bis hinten erzählen.
Wie sich herausstellte, war die Sonnenbrille überflüssig. Ein paar Wochen später holte ich mir eine zweite ärztliche Meinung ein und erhielt die Auskunft, dass mein Auge für den Rest meines Lebens durchhalten würde. Was kann man sich in meinem Alter mehr wünschen?
Ich geriet in einen Wirbel aus Geschäftigkeit. Rob hatte mich mittlerweile überzeugt, an dem vorliegenden Buch zu arbeiten, und quetschte mich regelmäßig aus. Er stocherte in Winkeln meines Gedächtnisses, die zu erkunden ich bislang gezögert hatte. Es war hart, gleichermaßen läuternd wie schmerzhaft, aber die Dunkelheit hebt sich, und es wird immer einfacher.
Als Rob seine Recherchen weiterführte, ergaben sich einige interessante Fragen über die Natur der Erinnerung. Immer wieder wollte er von mir wissen, ob ich mir sicher sei, die Aufschrift »Arbeit macht frei« über dem Tor von Auschwitz III gesehen zu haben. Ich war mir sicher, doch Rob erklärte, einige Experten zweifelten es an, und von der Stätte sei nichts mehr übrig, sodass weder die eine noch die andere Behauptung bewiesen werden könne. Die Toraufschrift, die heutzutage jeder kennt, befand sich über dem Tor des Stammlagers Auschwitz I . Seit über sechzig Jahren hat diese Aufschrift sich in das kollektive Gedächtnis eingeprägt, und viele Lager zeigten sie.
Rob sagte, die eindrucksvollste Darstellung des Lagerlebens, die vom Schriftstellers Primo Levi stammt, selbst ein Überlebender des Holocaust, erwähne die Toraufschrift bei Auschwitz III mehr als einmal, aber der Forschungsleiter des Auschwitz-Archivs sei nicht von deren Existenz überzeugt. Deshalb blieben für ihn Zweifel, sodass er mich mehrmals danach fragte, zumal es nicht mehr viele Zeugen gibt, bei denen man sich erkundigen könnte.
Dann geschah etwas Merkwürdiges. Ich lernte einen anderen Überlebenden von Monowitz kennen, der in Großbritannien zu Hause war, einen großartigen Burschen namens Freddie Knoller. Ich muss damals neben ihm auf der IG -Farben-Baustelle gearbeitet haben, ohne ihn kennengelernt zu haben. Auch Rob sprach mit ihm. Für Freddie gab es keinen Zweifel, dass es diese schreckliche Toraufschrift gegeben hat. Ich hatte sie zweimal flüchtig gesehen, doch Freddie war jeden Tag durch dieses Tor marschiert.
Von Anfang an wollte ich den Rest von Ernies Lebensgeschichte kennenlernen. Ich wollte wissen, wie es ihm auf dem Todesmarsch ergangen war und was er in Amerika erlebt hatte. Rob hatte mir nur einen kleinen Ausschnitt aus dem langen Video der Shoah-Stiftung gezeigt, die einzige Stelle, an der Ernie über mich, die Zigaretten und den Beginn des Todesmarsches spricht. Rob sagte, er wolle sich erst den Rest des Interviews anschauen, ehe er mir Ernies ganze Geschichte zeigt. Ich musste noch ein wenig warten.
Die Recherchen begannen. Eines Tages im Sommer 2010 kam Rob mit weiteren erstaunlichen Neuigkeiten nach Derbyshire. Diesmal ging es nicht um Auschwitz, sondern um ein Ereignis aus früherer Zeit: die Torpedierung des Schiffes, von dem ich 1941 ins Mittelmeer gesprungen war, um mich zu retten.
Rob sagte, die Akten zeigten, dass die Italiener während dieser Monate sehr viele Handelsschiffe im Mittelmeer verloren hätten, aber meine Schilderung passe auf nur ein einziges Schiff. Die anderen seien zu der Zeit entweder nicht in dieser Gegend gewesen, oder es stimme nicht mit den Daten überein.
Rob war überzeugt, dass das Schiff die Sebastiano Venier gewesen sein musste, auch bekannt als die Jason . Er breitete Karten und Akten auf dem Esstisch aus und ging sie durch. Tatsächlich konnte es nur dieses Schiff gewesen sein. Für mich änderte sich dadurch einiges.
Am 9. Dezember 1941 wurde die Sebastiano Venier von einem Torpedo getroffen, der von einem unserer Unterseeboote abgefeuert worden war, der HMS Porpoise unter dem Kommando von Lieutenant-Commander Pizey. Hunderte alliierter Soldaten, darunter viele Neuseeländer, kamen dabei ums Leben. Heutzutage würde man so etwas vermutlich »friendly fire« nennen, Beschuss durch eigene Truppen, und dieser Vorfall wäre eines der übelsten Beispiele in der Geschichte, aber damals machte man einfachere Rechnungen auf: Kriege werden nicht von Kriegsgefangenen gewonnen, und feindlicher Schiffsraum bedeutete Nachschub für Rommel. Ganz gleich, wie
Weitere Kostenlose Bücher