Der Mann, der ins KZ einbrach
wenigstens mussten die Deutschen einräumen, dass die Rotkreuzleute recht hatten: Die Latrinen reichten nicht für unsere Anzahl, und das Trinkwasser war schlecht.
Es herrschte eine Atmosphäre ständiger Anspannung und argwöhnischer Wachsamkeit. Man wusste nie, wem man trauen konnte. Stets wurde davon gesprochen, dass es in unserer Mitte Spitzel gebe; wir nannten sie »Spürhunde«. Ich kannte die Geschichte von Miller, und ich erinnere mich sogar, ihn gesehen zu haben. Er war ein Bursche, der sich auszudrücken verstand. Er traf allein von Lamsdorf kommend bei uns ein und behauptete, den Green Howards anzugehören, einem kleineren Regiment. Er erregte sofort Argwohn. Die Erlebnisse während seines Kriegsdienstes und seine Kenntnisse über das Regiment seien unstimmig, hieß es. Ein paar Jungs, unterstützt von Coward und seinen Gefolgsleuten, die ständig um ihn herum waren, hörten sich um. Sie kamen zu dem Schluss, dass Miller ein Spürhund war – ein Spitzel, der ins Lager eingeschleust worden war, um uns auszuhorchen.
Es heißt, sie hätten Miller auf der Latrine überwältigt, ihn umgebracht und seine Leiche in die Grube darunter geworfen. Ich war nicht dabei, aber ich habe damals nie bezweifelt, dass es stimmt. Im Lager gab es genügend Männer, die zu so etwas imstande waren. Den Deutschen schien es egal zu sein, dass ein Mann verschwunden war. Sie gingen der Sache niemals nach.
10. Kapitel
W ir arbeiteten jeden Tag elf Stunden. Vergessen Sie alles, was Sie in Spielfilmen über Gefangenenlager gesehen haben, in denen die Männer in Kricketpullovern herumlaufen und ein bisschen Gartenarbeit oder Turnübungen machen, um ihre Fluchttunnel zu tarnen, während sie Pfeife rauchen und die Deutschen veräppeln. Vielleicht ging es in den Offizierslagern so zu, aber für uns, für die Unteroffiziere und Mannschaften, bedeutete Kriegsgefangenschaft Schwerstarbeit, die allerdings nicht annähernd so hart ausfiel wie für die »Gestreiften«.
Jeden Tag musste ich mit ansehen, wie auf der Fabrikbaustelle Juden ermordet wurden. Einige wurden totgetreten und totgeprügelt, andere brachen zusammen und starben im Dreck an Entkräftung und Hunger. Ich wusste, dass das Gleiche überall im Lager geschah, bei jedem Arbeitskommando. Die Juden konnten ihr Ende vielleicht ein wenig hinauszögern, aber es war unausweichlich: Sie bekamen nicht genug zu essen, um überleben zu können. Gegen Mittag gab es die scheußliche Kohlsuppe. Wir bekamen sie kaum herunter; dabei war die Suppe halbwegs nahrhaft, während das Zeug, das die jüdischen Häftlinge bekamen, kaum mehr war als stinkendes Wasser. Von Zeit zu Zeit gelang es uns, den Deutschen vorzutäuschen, wir wären mehr Leute in unserem Arbeitskommando. Auf diese Weise bekamen wir mehr Suppe, als wir brauchten. Wir konnten sie den Juden nicht offen geben; wir ließen sie irgendwo stehen, wo sie herankamen. Wenn die Wächter oder die Kapos etwas mitbekamen, rissen sie den Juden die Suppe fort und kippten sie aus. Anschließend wurden die »Schuldigen« meist durchgeprügelt.
In den Buna-Werken saugten die Wärter jedem erschöpften Menschen das letzte bisschen Leben und Arbeitskraft aus, und wenn er verbraucht war, schickten sie ihn in den Tod. Ich kannte die Bezeichnungen damals noch nicht, aber die Juden mussten nach Westen, entweder in das Stammlager aus Ziegelbauten, das Konzentrationslager Auschwitz I , oder in das neue, ausgedehnte Lager aus Holzbaracken, Auschwitz II oder Auschwitz-Birkenau. Dort wurden sie früher oder später ermordet, viele gleich nach ihrer Ankunft. Hinter allem standen die SS und der Vorstand der IG Farben. Die Kapos – jene Häftlinge, die mit der Aufsicht über ihre Mitgefangenen betraut waren – konnte ich auf den Tod nicht ausstehen. Sie waren Dreckskerle. Viele von ihnen trugen an ihrer Häftlingskleidung das grüne Dreieck der Berufsverbrecher. Ihr Überleben hing davon ab, dass sie die anderen Häftlinge unter der Knute hielten. Wenn die Kapos ihre privilegierte Stellung verloren, standen sie ohne Freunde da und überlebten nicht lange.
Man hört oft von der Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber dem Menschen, aber in Auschwitz stellte sich die Frage nach »Menschlichkeit« oder »Unmenschlichkeit« gar nicht – was dort geschah, war bestialisch. Liebe und Hass besaßen keine Bedeutung; Gleichgültigkeit war das bestimmende Element. Ich fühlte mich durch jeden gedankenlosen Mord, gegen den ich nichts unternehmen konnte,
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