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Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
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niedermähte, es wurden immer mehr. An meiner Seite durchlebte er die Schlacht noch einmal. Der Lauf seines Maschinengewehrs verzog sich von der Hitze durch das pausenlose Feuern. Die Waffe war nutzlos. Die Russen waren nicht aufzuhalten. Er wurde verwundet, und vielleicht verlor er den Verstand. Ich sagte nichts. Wie konnte man an einem Ort wie Auschwitz Mitleid mit diesem Mann empfinden?
    Am Ende seines Monologs richtete er sich auf und ging ohne ein Wort des Abschieds weiter. Drei Tage später begegnete ich ihm wieder. Er blickte durch mich hindurch.
    Ich erinnere mich, wie ich Metallrohre gehalten habe, damit ein blonder Zwanzigjähriger mit frischem Gesicht Flansche anschweißen konnte. Er war ein ziviler deutscher Arbeiter. Diese Leute waren uns ein Rätsel, aber ich wollte unbedingt mehr wissen. Ich versuchte ihn anzusprechen, befragte ihn über Musik und wollte wissen, wieso die Nazis den Jazz so hassten. Ich dachte, wenn ich ihn überrumpelte, sprach er vielleicht über seine Vergangenheit und offenbarte irgendetwas Nützliches. Doch er war bereits vom Hass vergiftet und behauptete, die Juden hätten sein Land zugrunde gerichtet. Wir fanden keine Gemeinsamkeit, doch plötzlich hörte er auf zu schweißen und sang:
     
    Küss mich, bitte, bitte, küss mich,
eh die letzte Bahn kommt,
küss mich ohne Pause.
     
    Dieses unschuldige Lied passte nicht an diesen monströsen Ort, doch er bemerkte es nicht und machte sich wieder an seine Schweißarbeit.
    Ein anderer Häftling steht für mich stellvertretend für den Mut und die Tüchtigkeit, die von den Nazis vernichtet wurden. Sein Name war Victor Perez, ein sephardischer Jude aus Französisch-Tunesien. Er war ein Weltklasseboxer im Fliegengewicht gewesen. 1943 hatte man ihn in Paris verhaftet. Als sportbegeisterter Junge kannte ich ihn als »Young« Perez, der Anfang der Dreißigerjahre nach Großbritannien gekommen war und geboxt hatte. Ich sprach auf der IG -Farben-Baustelle nur ein einziges Mal mit ihm, und selbst da nur sehr kurz. Als ich ihm sagte, dass ich von seinem großen Kampf gegen Johnny King in Manchester wisse, musste er innehalten und nachdenken, ehe er sich erinnerte. Er war nur noch ein Schatten des gut aussehenden jungen Boxers, dessen Fotos ich kannte. Jahre später erfuhr ich, dass man ihn gezwungen hatte, auf dem Appellplatz von Auschwitz III um sein Leben zu boxen, während die SS -Leute auf den Kampfausgang wetteten. Im Januar 1945 wurde er von der SS auf dem Todesmarsch erschossen.
    Mir reichten unsere kleinen Sabotageakte nicht. Der Boden, über den wir gingen, hatte viel Blut getrunken. Der widerliche Geruch hing ständig über dem Lager und vermischte sich mit dem Gestank unserer Ausscheidungen und den Industriedämpfen. Die Fragen häuften sich.
     

     
    Ich glaubte, abgehärtet zu sein gegen die Brutalität von Auschwitz. Wollte man überleben, ging es nicht anders. Jeder, der in Auschwitz einsaß, hatte seine eigene Geschichte, aber das schiere Ausmaß des Leids ließ die persönlichen Tragödien in einem Meer aus Schmerz und Elend untergehen.
    Zwei Männer traten aus der Menge hervor, als ich am wenigsten damit rechnete, und die kollektive, anonyme Qual Tausender wurde zum persönlichen Schicksal zweier leibhaftiger Menschen. Die beiden waren Hans und Ernst, jüdische KZ -Häftlinge, die mich aus völlig unterschiedlichen Gründen berührten.
    Hans lernte ich kennen, als ich im ersten Stock eines Ziegelbaus arbeitete, der allmählich Gestalt annahm. Das Dach war noch offen, aber man hatte gerade damit angefangen, auf einem der Flure dicke Rohre zu verlegen. Ich konnte den Flur nicht einsehen und war deshalb leicht zu überraschen, falls ein Aufseher des Weges kam.
    Was ich tat? Ich kritzelte mit Kreide eine mathematische Formel auf eines der großen Rohre, die darauf warteten, installiert zu werden. Ich hatte meine Umgebung völlig vergessen. Das Ganze war völlig sinnlos, aber ich versuchte, etwas von meinem Vorkriegs-Ich zu retten, indem ich die Gewissheiten heraufbeschwor, die ich gekannt hatte. Ich versuchte mir eine umständliche Methode ins Gedächtnis zu rufen, mit der man die Fläche eines Dreiecks bestimmen konnte, den Satz des Heron:
     

     
    Da stand ich nun, ein Stück Kreide in der Hand, auf einem halb fertigen Gang nahe dem Epizentrum der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und starrte auf Symbole und Buchstaben auf einem Rohr.
    Hans sah, dass ich allein war, und packte die Gelegenheit beim Schopf. Er kam

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